Präsidentschaftswahlen in der Türkei – Medienhysterie in Deutschland
Nach dem für viele deutsche Medien unerwartet knappen Ausgang der türkischen Präsidentschaftswahlen zeigen sich viele deutsche Meinungs- und Medienmacher enttäuscht über den dortigen Wahlausgang, der am 28. Mai zu einer Stichwahl zwischen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu führen wird.
Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in der Türkei ist vorbei – und entgegen den Hoffnungen vieler deutscher Medien hat sie nicht zu einem klaren Sieg von Erdoğans Konkurrenten Kılıçdaroğlu geführt. Viele hatten ihm angesichts des von Inflation, dem schweren Erdbeben in diesem Jahr und Massenarbeitslosigkeit gebeutelten Landes einen klaren Sieg vorausgesagt. Erdoğan selbst erreichte sogar ein Gesamtergebnis von 49,5 Prozent und lag damit 4,6 Prozent vor seinem Konkurrenten.
Insgesamt 64 Millionen wahlberechtigte Türken im In- und Ausland konnten am vergangenen Sonntag ihre Stimme abgeben – in Deutschland waren es rund 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass. Nach wie vor kommt ein Großteil der Wähler Erdoğans aus den ländlichen, konservativ geprägten Regionen, die einen Großteil des Landes ausmachen. Aber auch die im Ausland lebenden Türken – insbesondere die in Deutschland ansässigen – machten wie schon 2018 mehrheitlich ihr Kreuz bei Amtsinhaber Erdoğan. Insgesamt sprachen sich durchschnittlich 65,4 Prozent der in Deutschland lebenden Türken für Erdoğan aus – im Konsulat Essen waren es sogar stolze 77,6 Prozent.
Neuer „Brain Drain“?
Deutliche Ergebnisse, mit denen die deutsche Medienlandschaft nicht gerechnet hatte. Und in der Bundesrepublik ist es seit jeher eine Besonderheit, dass man sich nur allzu gerne über politische Wahlentscheidungen anderer Länder aufregt und diese mit entsprechendem Unverständnis kommentiert. Eine Skizze:
„Eine Ohrfeige, die Erdoğan als Erfolg verbucht“, zitiert die Tagesschau den Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle, Erkan Arikan, in einem Interview. Er befürchtet, dass es mit der bevorstehenden Wiederwahl Erdoğans zu einem „Brain Drain 2.0“ kommen könnte, wie es ihn bereits in den Jahren 2017 bis 2020/21 gegeben habe, als ein „Exodus von jungen Studierenden nach Deutschland, nach Europa“ stattgefunden habe, „weil sie ihre Zukunft nicht mehr in der Türkei sahen“. Arikan ist überzeugt: „Es ist offensichtlich, dass sich das wiederholen wird, wenn Erdoğan weiter regieren sollte.“
Schock in den Medien
Die WELT hingegen beschäftigte sich mit der Frage, „wie der Erdoğan-Schock ausländische Investoren vertreibt“. Der Autor dieser Zeilen zeigt sich überzeugt: „Die Märkte haben nicht immer recht. Das lässt sich gerade einmal wieder in der Türkei beobachten.“ Die Akteure am Bosporus hätten „auf eine große Trendwende (...) gesetzt“. Die Zinsmärkte „hatten den Wandel schon fest eingepreist“. Doch es kam anders – „das sei nicht das Lieblingsszenario der Börsen“, schreibt Wirtschaftsredakteur Holger Zschäpitz. Er zeigt sich enttäuscht, dass „trotz der desaströsen Regierungsbilanz des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP-Partei (...) sich die Türken in der Parlaments- und Präsidentschaftswahl nicht für einen kraftvollen Wechsel entschieden haben“ haben.
„Erdoğan und die Türkei: Der Sieg des Sultans“, titelt die Allgemeine Zeitung. Hier zeigt sich der Autor Friedrich Roeingh überzeugt, dass mit diesem Wahlergebnis „der Traum vom Sieg der Demokratie über die Autokratie“ ausgeträumt sei. Man sei sich sicher: „Erdoğans Türkei entfernt sich weiter von Europa und rückt näher an den Iran – eine Tragödie“.
Erdogan als Problem für die Türkei?
T-Online hingegen geht aufgrund des Wahlergebnisses einen anderen Weg: „Erdoğans Prunksucht – Der Mann, der seine Villen wie Staatsgeheimnisse hütet“. In einer Stichwahl wird hier hoffnungsvoll ein mögliches „politisches Aus“ sowie ein Verlust von Erdoğans „Eintrittskarte in eine Welt aus Prunk und Protz“ gesehen.
BR24 selbst zitiert den Politikwissenschaftler Burak Çopur: „Der Gewinner der Wahl steht fest. Der türkische Nationalismus und politische Islam“. Auch der Münchner Kommunikationswissenschaftler und Aktivist Kerem Schamberger kam im öffentlich-rechtlichen Sender zu Wort: „Für alle Menschen, die nicht in das Weltbild des türkischen Nationalismus passen, wird es noch schwieriger und gefährlicher.“ Sogar der grüne Bundeslandwirtschaftsminister durfte sich zu Wort melden und sagte im Bayern 2-Radio niederschlagend mit Blick auf das türkische Parlament, das so konservativ zusammengesetzt sei wie noch nie: „Das ist für Frauenrechte, für LGBT-Rechte, für Menschenrechte, Minderheitenrechte sicherlich keine gute Nachricht.“
Einige Manipulationsvorwürfe
Nach Berichten der Frankfurter Rundschau wurden in der Türkei massive „Manipulationsvorwürfe“ laut – „Manipulation bei Türkei-Wahl? Opposition erhebt schwere Vorwürfe“ – wonach „Stimmen anderer Parteien wissentlich dem Bündnis der ‚Volksallianz‘ zugeordnet worden“ seien. Andernorts hätten „AKP-Anhänger Wahllokale gestürmt“. Sie zitiert auch den türkisch-amerikanischen Ökonomen Daron Acemoglu, der die Wahl als „nicht wirklich demokratisch“ kritisiert. „Der Präsident und seine Verbündeten kontrollierten Fernsehen und Printmedien vollständig und nutzten sie, um Nationalismus zu schüren.“
Und der bekannte Erdoğan-Kritiker Deniz Yücel sah in dem Ergebnis gar „keine guten Aussichten für die Zukunft von Demokratie und Grundrechten in der Türkei“. Er selbst schätzte die Stimmung wie viele andere „gegen Erdoğan“ ein, einer sieht nun vor allem die „ultranationalistischen Strömungen“ in den „beiden großen Blöcken wie im Oğan-Lager“ für das Ergebnis verantwortlich. Das Hauptproblem, so Yücel, seien die türkischen Wähler. Denn diese „treibt ein starker bis extremer Nationalismus an“.
Wie die Stichwahlen nun letztendlich ausgehen werden, ist noch ungewiss – der Trend geht aber angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse klar in Richtung Wiederwahl Erdoğans. Der dritte Kandidat im Bunde, Sinan Oğan, ist mit seinem Bündnis Ata klar im rechten politischen Lager zu verorten. Welches Kreuz seine Wähler am 28. Mai machen werden, dürfte damit ebenso klar sein wie der anschließende Aufschrei in der deutschen Medienlandschaft.