Russland und wir – flüchtige Konstanten der Geopolitik

Die Beziehung zu Russland ist die wichtigste, aber gleichzeitig auch die komplexeste und wechselvollste der deutschen Außenpolitik. Es ist verständlich, dass versucht wird, diese auf mythische Bilder herunterzuspielen: Die historische deutsch-russische Freundschaft hier, Moskau als Hort des Despotismus und Ausgang jahrhundertelanger Aggression gegen Europa dort.
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15.9.2022
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3 Minuten Lesezeit
Russland und wir – flüchtige Konstanten der Geopolitik

Symbolbild (Pixabay /CC0)

Die Beziehung zu Russland ist die wichtigste, aber gleichzeitig auch die komplexeste und wechselvollste der deutschen Außenpolitik. Es ist verständlich, dass versucht wird, diese auf mythische Bilder herunterzuspielen: Die historische deutsch-russische Freundschaft hier, Moskau als Hort des Despotismus und Ausgang jahrhundertelanger Aggression gegen Europa dort.

Politische Bildersprache ist notwendig. Sich über ihre Vereinfachungen zu entrüsten Elfenbeinturmgehabe. Nur in diesem Falle sind beide Bilder so falsch, dass die Wirklichkeit noch nicht einmal dazwischen liegt. Sie verfehlen das Thema.

Um selbst die Geschichte auf eine Formel zu vereinfachen: Seit zweihundert Jahren ist Russland der beste Freund eines schwachen Deutschlands und der schlimmste Feind eines starken. Versetzen wir uns dafür einmal in die Position eines russischen Staatsmannes: Ein schwaches Deutschland, solange es Unabhängig bleibt, ist der beste Pufferstaat, den Russland sich wünschen kann. Selbst ein schwaches Deutschland wird dagegen für Russland gefährlich, wenn es als Vasall einer russlandfeindlichen Macht eingesetzt wird. Solange Deutschland schwach ist, ist die Unterstützung deutscher Unabhängigkeit einer der ersten Imperative russischer Staatskunst.

Ein russischer Albtraum

Ein starkes Deutschland ist jedoch Russlands größter geopolitischer Albtraum: Eine technisch und wirtschaftlich überlegen Macht fast an der eigenen Grenze, die durch ihre schiere Existenz mit Russland um Einfluss in Osteuropa konkurriert. In einem Osteuropa, dessen Völkerschaften zwar alle gerne so tun, als wären sie souveräne Staaten, die historisch jedoch, den polnischen Sonderfall ausgeschlossen, immer die deutsche der russischen Hegemonie vorgezogen haben, sobald es zum Schwur kam.

Seit dem 19. Jahrhundert ist Russland gegenüber den angelsächsischen Seemächten, erst Britannien, dann die Vereinigten Staaten, in jener latenten Konfliktposition, die Kipling das „Great Game“ genannt hat. Die Betonung liegt gleichermaßen auf beiden Worten. Es ist hohe internationale Politik, aber gleichzeitig eben nur ein Spiel um Einflusszonen. Mal gewinnt man, mal verliert man, aber es geht nicht an die Existenz, weil keiner die sicherheitspolitisch relevanten Grenzen des anderen überschreitet. Игра, nicht война, um Lenins Ausdrucksweise zu gebrauchen. Die derzeitige amerikanische Politik, die auf den Regimewechsel in Moskau abzielt, ist eine irrationale, pathologische Ausnahmeerscheinung, amerikanischer Hybris nach dem Sieg im kalten Krieg und der gegenwärtigen Dysfunktionalität des politischen Systems der Vereinigten Staaten gleichermaßen geschuldet. Sollte Deutschland tatsächlich eine Politik der europäischen Einigung verfolgen, die diesen Namen verdient und die Europäische Union oder eine wie auch immer geartete Nachfolgeorganisation zu einem eigenständigen politischen Akteur ausbauen, dann sollten wir uns nicht wundern, wenn Washington und Moskau plötzlich ihre eigene historische Freundschaft entdecken.

Im Gegensatz zum Great Game zwischen Russen und Angelsachsen, sind Konflikte zwischen Deutschland und Russland, bei der gänzlich anderen geopolitischen Ausgangslage, stets bis aufs Messer geführt worden. Deutschland ist das einzige Land, seit den Tagen Peters des Großen, das, 1917, Russland in einem osteuropäischen Landkrieg in die Knie zwang und Rußen, die mit ihrer Geschichte ehrlich sind, wissen, dass der Krieg 1942 ohne die amerikanischen Lieferungen nicht anders ausgegangen wäre.

Haltung zu Deutschland

Die Haltung zu Deutschland muss aus russischer Sicht deshalb stets davon abhängig gemacht werden, wie stark Deutschland ist. Ist es schwach, so muss man es stützen, damit es nicht als Vasall und Aufmarschgebiet an jemand anderen fällt. Ist es hingegen stark, so ist es ratsam, sich mit eben jenen anderen zu verbünden, um Deutschland zurecht zu stutzen. Daraus erklären sich die extremen Schwankungen der deutsch russischen Beziehungen in den vergangen zwei Jahrhunderten.

Wechseln wir in die deutsche Perspektive: Für Deutschland war die russische Option stets eine unzuverlässige, aber bisweilen bitter notwendige Trumpfkarte. Notwendig, weil Deutschland in der Mitte Europas verwundbar ist wie kaum ein zweites Land auf der Welt und auf diese starke Bündnisoption nicht verzichten kann. Unzuverlässig neben den oben genannten Gründen auch deswegen, weil Russland sich viel einfacher aus einem europäischen Konflikt absetzen kann als Deutschland. Die Konvention von Tauroggen brachte Preußen einen Platz am Siegertisch des Wiener Kongresses ein. Ohne sie gäbe es heute keinen geeinten deutschen Staat. Doch dem war der Friedensschluss des Zaren mit Napoleon auf Preußens Kosten nach den Schlacht von Jena und Auerstedt vorangegangen. Bismarcks Bündnispolitik gegenüber Russland ermöglichte die Reichsgründung vor allem deswegen, weil Russland von der Dynamik der deutschen Einigung genauso überrollt wurde, wie England. Entgegen einem weitverbreitetem Mythos scheiterte Bismarcks Russlandpolitik schon zu seinen Amtszeiten.

Spätestens seit dem Berliner Kongress 1878 gewannen die deutschfeindlichen Kreise in Petersburg die Oberhand. Der berühmte Rückversicherungsvertrag war nur drei Jahre in Kraft (1887-1890) und bereits ein Flicken auf den unkittbaren Rissen der deutsch-russischen Beziehungen nach dem Zerbrechen des Dreikaiserbundes zwischen Deutschland, Russland und der Habsburgermonarchie. Die ihn umrankenden Legenden sind das Werk einer gegen Kaiser Wilhelm II. gerichteten, eigentlich strafbaren Indiskretion des altersstarrsinnigen Bismarck. Der Vertrag von Rapallo, der vielleicht einzig nennenswerte außenpolitische Erfolg der Weimarer Republik, fiel in die Zeit der größten deutschen Schwäche seit dem dreißigjährigen Krieg. Der Hitler-Stalin-Pakt schließlich rettete Deutschland zwar für den Moment vor der Einkreisung, endete jedoch mit den bekannten Forderungen Molotovs und dem Krieg im Osten.

Die deutsch-russischen Beziehungen waren immer volatil. Die Gründe dafür liegen zuallererst in der geopolitischen Struktur, erst danach in den Fehlern dieses oder jenes Akteurs, über welche sich die Nachwelt dann das Maul zerreißt. Im zwanzigsten Jahrhundert wurden diese Beziehungen noch einmal komplexer, da Fragen der Rohstoffversorgung neben die gegenseitige militärische Bedrohung traten. Russland ist und bleibt, wie ich anderswo gezeigt habe, der einzige nennenswerte Rohstofflieferant, zu dem Deutschland die Transportwege aus eigener Kraft offenhalten kann. Die Russlandpolitik bleibt die hohe Schule deutscher Staatskunst. Sie verträgt keine Phrasendrescherei!


Zur Person:

Johannes K. Poensgen, geboren 1992 in Aachen, studierte zwei Semester Rechtswissenschaft in Bayreuth, später Politikwissenschaft und Geschichte in Trier. Erreichte den Abschluss Bachelor of Arts mit einer Arbeit über die Krise der Staatsdogmatik im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Befasste sich vor allem mit den Werken Oswald Spenglers und Carl Schmitts.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
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