Papst Franziskus: „Zuerst Europa, dann jeder von uns“
Zu den großen Aufgaben Europas gehöre jetzt der ernsthafte Dialog. Dabei müssen der Leitgedanke sein: „Zuerst Europa, dann jeder von uns“, so der Papst.
Turin. In einem Interview mit der italienischen Tageszeitung La Stampa hat Papst Franziskus vor einer Auflösung des vereinten Europas und einem Souveränismus gewarnt, der zu neuen Kriegen führen könne: „Europa kann und darf sich nicht auflösen“. Die Vision der Gründerväter habe Bestand gehabt, weil sie eine Verwirklichung der Einheit des Kontinents sei.
Papst besorgt
Zufrieden äußerte sich Franziskus über die Wahl Ursula von der Leyens zur neuen EU-Kommissionspräsidentin. „Eine Frau kann geeignet sein, die Kräfte der Gründerväter wiederzubeleben“, denn „Frauen haben die Fähigkeit zu verbinden, zu einen“, so der Papst. Kritisch wandte er sich gegen neu aufkommende souveräne Alleingänge von Nationalstaaten. „Ich bin in Sorge, weil man Reden hört, die denen von Hitler 1934 ähneln: ‚Zuerst wir. Wir …, wir …‘ – das ist ein Denken, das Angst macht“, sagte der Papst. Natürlich müsse ein Land souverän sein, es dürfe sich aber nicht isolieren. „Der Souveränismus ist eine Übertreibung, die immer schlecht endet: Sie führt zum Krieg.“
„Identität ist ein Reichtum“
Zu den großen Aufgaben Europas gehöre jetzt der ernsthafte Dialog. Dabei müssen der Leitgedanke sein: „Zuerst Europa, dann jeder von uns.“ Letzteres sei keineswegs unwichtig, aber Vorrang habe Europa. Zur Rolle nationaler und kultureller Identitäten in Europa verwies der Papst auf den ökumenischen Dialog. Auch dieser müsse immer erst von der eigenen konfessionellen Identität ausgehen. Identität dürfe nicht verhandelbar, müsse aber integrierbar sein. Das Problem sei, dass man sich in der eigenen Identität verschließe und sich nicht öffne. „Identität ist ein Reichtum – kulturell, national, geschichtlich, künstlerisch – jedes Land hat seine eigene“, so Franziskus. All das aber müsse im Dialog eingebracht und integriert werden.
Häfen sollen für Migranten offen bleiben
Der Papst hat sich auch zur Migration nach Europa geäußert. Nach seinen Aussagen ist diese Herausforderung ebenfalls nur gemeinsam und im Dialog zu lösen. Dazu müssten Häfen aber offen bleiben und dürften nicht geschlossen werden. Zur Verteilung und Integration von Migranten in Europa verwies Franziskus unter anderem auf Länder, in denen ländliche Regionen teils unter erheblichem Bevölkerungsschwund litten. Dort könnten Gruppen von Migranten angesiedelt werden, die diese Gegenden wiederbelebten. Zudem würden in der Landwirtschaft vielerorts dringend Arbeitskräfte gesucht.
Um die Flucht aus Kriegsgründen zu beenden, müssten Friedensbemühungen verstärkt werden. Gegen die Migration aus Gründen von Armut und Hunger, insbesondere aus Afrika, brauche es dort Investitionen, um den Menschen zu helfen, ihre Probleme selbst zu lösen, forderte der Papst.