Die Beschlüsse von Karlsbad – Ein Maulkorb für Deutschland
Mit der Ermordung des Schriftstellers und russischen Generalkonsuls August von Kotzebue hatten die reaktionären Kräfte des Deutschen Bundes die hinreichende Begründung für die umfassende Einschränkung bürgerlicher Freiheiten. Die zahlreichen Zensurgesetze führten zu einer starken Veränderung der politischen Landschaft in Deutschland. FREILICH-Redakteur Mike Gutsing zeigt, welche Erkenntnisse wir auch heute noch aus dem frühen 19. Jahrhundert ziehen können.
Es ist eine alte historische Weisheit, dass die Französische Revolution und die napoleonischen Eroberungszüge das Rad der Zeit nachhaltig um mehr als eine Umdrehung zurückgedreht haben. Die kulturellen, sozialen und politischen Umwälzungen müssen als so umfassend angesehen werden, dass selbst die Versammlung der mächtigsten Männer Europas, der Wiener Kongress, nicht hinter diese Schwelle zurücktreten konnte. Die Schlagworte Restauration – Legitimität – Solidarität galten jedoch nicht für die Hunderttausende von Europäern, die für die Befreiung ihrer Länder vom französischen Joch kämpften, sondern nur für ihre Herrscher. Die christlichen Monarchen des Kontinents von Madrid bis Moskau beriefen sich auf ihr Gottesgnadentum und schlossen die „Heilige Allianz“, um einen erneuten „Aufstand des Pöbels“ zu verhindern.
Wäre es nur um den Wunsch nach Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen gegangen, wäre es wohl bei einigen anarchistischen Aufständen geblieben, aber die Idee eines gesamtdeutschen Staates, der Vereinigung des ganzen Vaterlandes der Deutschen, gab vor allem den gebildeten Schichten ein politisches Ziel, auf das es hinzuarbeiten galt. Mit den überall im Deutschen Bund entstehenden Burschenschaften gab es erstmals eine sichtbare, nach außen hin erkennbare Gruppe von Männern, die sich nicht mehr als Teil eines Staates, sondern als Teil der deutschen Nation verstanden. Ein revolutionärer Gedanke, und nichts fürchteten die Herzöge, Könige und Kaiser Europas mehr als eine Revolution.
„Hier du Verräter des Vaterlandes!“
Es brauchte also keinen Grund, sondern nur einen Anlass, um die wenigen Freiheiten, die sich die Bürger nach den Befreiungskriegen erkämpft hatten, wieder zu untergraben. Der erste war die Ermordung des reaktionären Schriftstellers August von Kotzebue. Seine „Geschichte des Deutschen Reiches“ gehörte zu den Büchern, die eine Splittergruppe von Teilnehmern des Wartburgfestes auf dem Wartenberg verbrannt hatte, und Kotzebue selbst galt in der Presse wegen seiner scharfen Angriffe auf den deutschen Liberalismus als personifizierte Verkörperung der verhassten Reaktion. Sein Mörder: der Jenaer Burschenschafter Karl Ludwig Sand. Er überraschte Kotzebue am 23. März 1819 in dessen Wohnung und stach mehrfach auf ihn ein. Dabei soll Sand fast wahnsinnig ausgerufen haben: „Hier bist du Vaterlandsverräter! Der Historiker Heinrich von Treitschke bewertete die Auseinandersetzung zwischen Studenten und Staat auf ihrem Höhepunkt wie folgt:
„Es ist nicht wahr, dass die patriotische Schwärmerei der akademischen Jugend erst durch die Verfolgung ihren harmlosen Charakter verloren hätte; vielmehr traten schon in der ersten Zeit der burschenschaftlichen Bewegung, schon 1816, neben einer Menge unschuldiger Träumer einzelne entschiedene Revolutionäre auf, die, wie Karl Follen, geradewegs auf den gewaltsamen Umsturz des Bestehenden losgingen.“
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Mit Hep-Hep in den Polizeistaat
Der leitende Minister des österreichischen Kaiserstaates, Graf von Metternich, hatte nun einen Vorwand, den Burschenschaften und damit dem gesamten liberalen Nationalismus in Deutschland mit schärfsten Mitteln zu begegnen. Bereits Anfang März hatte er in Karlsbad eine Ministerkonferenz mit seinen preußischen Amtskollegen einberufen und einen umfassenden Katalog von Beschränkungen für Presse, Universitäten und Burschenschaften ausgearbeitet. Die nötige Dringlichkeit lieferten den Verantwortlichen einige antijüdische Ausschreitungen in Süddeutschland, vereinzelt aber auch in Preußen. Diese sogenannten „Hep-Hep-Krawalle“ wurden als „revolutionäre Umtriebe“ vermarktet und zogen auch die übrigen deutschen Kleinstaaten in das Netz der Freiheitsbeschränkungen.
Landesherrliche Vertreter an allen Universitäten, Entlassung unliebsamer und nationaler Professoren und Verbot aller burschenschaftlichen Aktivitäten. Die Mitgliedschaft in einer Burschenschaft disqualifizierte junge nationale Studenten sofort von allen öffentlichen Ämtern. Auch wenn die Knebelgesetze die unter der Oberfläche brodelnden Freiheitsgefühle der Deutschen nur kurzfristig zudecken konnten, warfen die Karlsbader Beschlüsse Deutschland in eine fast vorpolitische Zeit zurück.
Karlsbad als Risiko und Chance
Anders als heute konnte Sand selbst von seinem Henker noch Respekt als „Held der nationalen Idee“ einfordern. Anders als damals sind explizite Verbotsgesetze nur noch Beiwerk eines undurchdringlichen Filzes von Metternichen und anderen Meinungshegemonen. Wenn politische Bewegungen eines aus den Jahren der Restauration lernen können, dann, dass der Weg in die Illegalität zwar deutliche Signale setzt, dem Gegner aber kampflos die uneingeschränkte moralische Hoheit überlässt. Um die Folgen dieser Überlagerung von moralischer, institutioneller und politischer Macht zu verstehen, bedarf es keiner profunden Kenntnisse des frühen 19. Jahrhunderts, sondern lediglich eines aufmerksamen Blicks auf die Gegenwart.
Eine Perspektive, die sich damals wie heute die nationalen Kräfte teilen. Für die Opposition bleibt nur der schmale Grat zwischen Verharmlosung und Illegalität. Beides kann im Übermaß zur (Selbst-)Zerstörung politischer Akteure führen und politischen Lagern auf Dauer großen Schaden zufügen. Für diese Mäßigung gibt es kein Patentrezept, und jede Struktur muss ihre eigenen Notwendigkeiten und Möglichkeiten kennen und nutzen. Denn eines gilt es zu bedenken: Ohne Karl Ludwig Sand und die Karlsbader Beschlüsse hätte der Vormärz nie seine tiefen kulturellen Wurzeln schlagen können. Wer auch immer die politischen Veränderungen der Zukunft einleiten wird, die Folgen könnten andere sein, als ihre Architekten gedacht haben.
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