Die Hexenjagd als Kunst: Berlin zeigt Hydras Reden
Ein Avantgarde-Komponist wird öffentlich an den Pranger gestellt – mit Anschuldigungen und einer Sprache, die mehr Ästhetik als Beweise liefert. Das inspirierte den russischen Autor Ilia Ryvkin zu einem Theaterstück, das demnächst in Berlin aufgeführt wird.
Das Stück „Hydras Reden“ wird am kommenden Wochenende in Berlin aufgeführt.
© Foto von Andrei Stratu auf Unsplash„Intelligenzbestie“ – die Überschrift eines Artikels in einem angesagten Moskauer Webmagazin aus dem September 2023 überraschte mich kaum. Die sowjetische Journaille bezeichnete Solschenizyn mit dem Titel „Literarischer Nazihandlanger vom Typ Wlassow“. Zeiten ändern sich, doch die Ausdrucksweise bleibt konstant. Der Artikel handelte von einem jungen russischen Avantgarde-Komponisten, Kyrill Schirokow, der angeblich seit Jahren Frauen missbraucht hatte.
Vom Avantgardisten zum Staatsfeind?
„Der dreiunddreißjährige Kyrill Schirokow“, hieß es in dem Artikel, „ist von Beruf Avantgarde-Komponist, aber dank seiner poetischen Experimente hat er auch in literarischen Kreisen einigen Ruhm erlangt. Er vertrat Russland auf der Biennale von Venedig 2012, war für den Preis der Goldenen Maske 2019 nominiert, nahm an Kirill Serebrennikows inzwischen geschlossenem Projekt Platform teil und war ständiger Resident des Electrotheatre Stanislavsky, wo er als Dozent auftrat und Musik für Theaterstücke komponierte, darunter die Operette ‚Sojas Wohnung‘.“ Nach Beginn der „Spezialoperation“ floh er nach Deutschland.
Weiterhin wurde unter dem Anspruch buchhalterischer Genauigkeit ein Inventar der Frauen geführt, die es im Leben des jungen Komponisten gab – darunter auch eine nicht-binäre Person –, wobei Episoden des Zusammenlebens und kurze Liaisons getrennt erfasst wurden. In demselben protokollarischen Stil wurde eine Liste der „verschiedenen Formen von physischer und psychischer Gewalt“ präsentiert, denen die hinter Notenblättern versteckte Bestie all ihre „bislang bekannten Partnerinnen“ aussetzte. Genau an dieser Stelle, beim Lesen des Artikels, stieß ich auf ein Problem: Eine seiner ‚Partnerinnen‘ – seine erste langjährige Freundin, die ich persönlich kenne – berichtete mir von all den Übertreibungen, Unwahrheiten und Auslassungen, mit denen die Rufmordkampagne gegen den Komponisten geführt wurde.
Protokolle eines Tribunals
Was mich an dem Artikel besonders fesselte, war seine Stilistik: eine Art juristische Dokumentation, die immer wieder in hysterische Töne abdriftete. So müssten die Protokolle der Lynch-Gerichte wohl aussehen: Ein Dorf versammelt sich und entscheidet nach Belieben, ob man Jimmy aufhängen soll – oder ob man ihm vielleicht doch noch eine zweite Chance gibt. Bei uns im Alten Kontinent wird jedoch nicht nach dem Gewissen, sondern nach den Gesetzen geurteilt.
Der Artikel strotzt vor Anschuldigungen, die dem Komponisten strafrechtlich relevante Taten zuschreiben – darunter Vergewaltigung, Körperverletzung und Diebstahl. Das Wort „Vergewaltigung“ fungiert in woken Kreisen wie ein Zauberstab und verleiht der Benutzer:in Allmacht über die Person, auf die es gerichtet ist. Wenn man einen Welpen ohne dessen einvernehmliches Einverständnis streichelt, wird das schon als Vergewaltigung angesehen. Keine der im Text vorgebrachten Anschuldigungen wurden je juristisch geltend gemacht.
Worte wie Hiebe
Ich maße mir keineswegs an zu behaupten, dass dieser Mann ein idealer Partner oder Ehemann war – es liegt nicht in meiner Kompetenz, über die Beziehungen anderer zu urteilen. In unserer heutigen Gesellschaft, ob in Deutschland oder Russland, heißt das Prinzip: Wer seinen Partner nicht mehr liebt, geht. In jedem Land gibt es Polizei, und Anlaufstellen für Gewaltopfer sind keine Seltenheit. Soweit bekannt, hat niemand dem Komponisten vorgeworfen, er habe Frauen im Keller gefangen gehalten.
Ziel jener Hetzkampagne war es, den Verfasserinnen der Briefe – von denen mehrere nach Deutschland emigriert sind – einen Opferstatus zuzuschreiben, der ihnen auf dem Kunstmarkt zu größerer Sichtbarkeit und Anerkennung verhelfen konnte. Gleichzeitig wurde der Komponist gezielt diffamiert und letztlich einem sozialen Tod ausgeliefert. Dass dabei auch politische Motive eine Rolle spielen, erscheint plausibel – denn hinter der Aktion stehen Akteurinnen und Akteure aus dem russischsprachigen liberalen Milieu, dessen Doppelmoral Cyrilles (Kyrill Schirokow, Anm. d. Red.) seit geraumer Zeit offen kritisiert. Sein Ausschluss bedeutet zugleich den Ausschluss seiner Musik aus dem kulturellen Gedächtnis. Und genau an diesem Punkt beginnt mein Zorn.
Der kulturelle Tod als Ziel
Als Literat hat mich das Genre der Denunziations-, Verleumdungs- und Petzschriften stets fasziniert – ihre stilistischen, rhythmischen und grammatischen Eigenheiten. Wie sich das sprachliche Gewebe aufstellt, sobald im Hintergrund auf die Figur eines strafenden Großen Anderen verwiesen wird – sei es der liebe Gott in der „Justine“ des Marquis de Sade, eine Gesinnungs- oder Sittenpolizei oder, wie in den von mir gelesenen Verleumdungsschreiben der wokistischen Agenda, hinter der Hillary Clinton, die Dritte Pazifikflotte der USA und letztlich eine globale Diktatur des Finanzkapitals aufscheinen. „Heute betreiben Sie Abuse und Gaslighting, und morgen kommen wir, um Sie zu bombardieren.“
Eben jene formalen Besonderheiten der Beleidigungsbuchhaltung haben mich an den Zeugenaussagen der ehemaligen Frauen des Komponisten fasziniert. Der acht Frauen und einer nicht-binären Person, Pardon.
Anatomie der Anklage
Die Welt der Tragödie bietet uns zahlreiche Beispiele von Frauen, die einen Mann als einen absoluten Blender anklagen. Die Reden von Medea und Phaedra sind keine Denunziationen. „Ich stehe fest auf der Erde, gegen Menschen und Götter, und verurteile dich, Mann!“ – ein ewiger Respekt.
Der Ton der Briefe der „acht Frauen und einer nicht-binären Person“ ist ein ganz anderer – und vor allem: in allen neun Schreiben auffallend gleichförmig. Die Autorinnen reihen ihre Geschichten aneinander, schleifen sie zu einem gesichtslosen Kollektivtext, versehen mit dem Etikett „Frauen“. Eine emanzipierte Frau, so wie ich sie kenne, würde in einer solchen Situation vielleicht etwas sagen wie: „Ich hatte einfach keine Lust mehr auf den Typen.“
In den Briefen hingegen wird die gesamte Verantwortung für die Beziehung – vom Anfang bis zum Ende – dem „bösen Mann“ zugeschrieben, der am Ende als einzig handlungsfähiges Subjekt dasteht. Unterschwellig scheint dabei nur eine Frage zu zählen: Wer von uns ist das größere Opfer? Und obwohl sie scheinbar aus einer feministischen Haltung heraus sprechen – also gegen die Objektivierung der Frau – objektivieren sie sich in Wahrheit selbst.
Ein Chor ohne Gesicht
Die mechanische Aufzählungsmethode, durchsetzt mit pop-psychologischen Anglizismen, bestärkte in mir die Überzeugung: So spricht kein Mensch. Die Sprache der Briefe erwies sich als unmenschlich. So entstand und reifte die Gestalt der Geschichtenerzählerin – einer Hydra. Ihre vielen Schlangenköpfe schienen nur auf ihren Auftritt gewartet zu haben – und dann tat sich plötzlich eine Gelegenheit auf.
Am 26. und 27. April lädt die Musikbrauerei Berlin zu einer Kunstschau ein, bei der Freiheit in all ihren Erscheinungsformen künstlerisch reflektiert wird. Veranstaltet wird das Event von der Internationalen Agentur für Freiheit (IAFF), einem Zusammenschluss nonkonformer Künstler, der sich 2022 in Berlin gründete – jenseits aller politischen Lager und Kategorien. Ein roter Faden, der sich durch die vorgestellten Werke zieht, ist die kritische Auseinandersetzung mit „Cancel Culture“.
Die Hydra auf der Bühne
Ich habe das Theaterstück schnell zusammengeschrieben und obwohl der Stoff jenem konkreten Fall entliehen ist – es gibt kaum was in seinem Text, dessen Inhalt sich nicht in den Verleumdungsbriefen wiederfindet –, erreichte es eine weitgehende Stufe der Abstraktion. Es kommen keine Namen vor, zu meiner Intention gehörte auch nicht festzustellen, wer in jenem konkreten Fall Recht oder Unrecht hatte. Aufgaben, die ich mir stellte, waren einer rein ästhetischen Natur, oder besser gesagt, mit ästhetischen Mitteln Mechanismen zu erforschen, die eine Rufmordkompanie wie jene in Bewegung setzen.
Der Komponist Cyrilles zeichnet verantwortlich für die musikalische Gestaltung der Performance. Ob es sich dabei um um eine hybride Form der „Komprovisation“ – ein Verfahren, das komponierte Strukturen mit improvisatorischen Momenten verbindet und Raum für klangliche Brüche, Instabilitäten und kontrollierte Desaster lässt –, bleibt offen. Möglich erscheint ebenso ein vielschichtiges Geflecht aus dunklen elektronischen Klängen, fortepianischen Themen und rauschenden Texturen, ironisch gebrochen und formal herausfordernd. Was genau zu erwarten ist, entzieht sich finaler Einordnung. Umso größer die Spannung: Lassen wir dem Komponisten die Freiheit, uns zu überraschen.
Fürchten sich die Teilnehmerinnen der Performance, an einem Projekt mitzuwirken, das wie ein Tabubruch anmutet? Das glaube ich nicht! Die Zeichen stehen auf Sturm: Auch ein kulturpolitischer Dammbruch ist durchaus möglich.