Für die Überwindung der bloßen Verneinung

Die AfD schwimmt aktuell auf einer Erfolgswelle, in manchen Ländern erreicht die Partei in Umfragen bereits 30 Prozent. Bundesweit steht sie bei 15 Prozent. Doch anstatt in eine Selbstzufriedenheit zu geraten, sollte sie programmatisch und stilistisch für Zeiten vorsorgen, in denen das Protestpartei-Rezept nur noch ungenügend zieht.

Kommentar von
11.1.2023
/
8 Minuten Lesezeit
Für die Überwindung der bloßen Verneinung

Florian Sander

Nach langer Stagnation und politischer Depression, geprägt von ständigen innerparteilichen Zwistigkeiten, erlebt die AfD nun im Zuge von Energiekrise und Inflation in den Umfragen ihren zweiten Frühling. Den ersten erlebte sie infolge der Migrationskrise ab 2015, während sie von der Corona-Krise und deren Folgen nicht profitieren konnte. Nun allerdings, in Zeiten, in denen sich die Grundemotion in weiten, vor allem sozial benachteiligten Teilen der Bevölkerung von „Seuchenangst“ zu „Wut über Preisentwicklungen“ hin entwickelt hat, erlebt sie eine neue Erfolgswelle in den Umfragen und steht bundesweit bei ca. 15 Prozent. Die Versuchung ist groß, darüber in eine gewisse Selbstzufriedenheit zu geraten. Doch diesen Fehler sollte die Partei nicht wieder machen. Stattdessen gilt es, programmatisch und stilistisch vorzusorgen – für Zeiten, in denen das Protestpartei-Rezept nur noch ungenügend zieht.

Die AfD hat zwar, demoskopischen Erkenntnissen zufolge, den Zustand einer reinen Protestpartei hinter sich gelassen. Sie kann, spürbar in vielen Wahlergebnissen, bundesweit inzwischen auf einen relativ festen Wählerstamm setzen, der nicht nur aus Protest, sondern aus Überzeugung AfD wählt und der sich irgendwo zwischen fünf und zehn Prozent bewegt. Ab dem Moment jedoch, in dem krisenbedingte Proteststimmungen wegbrechen, läuft sie Gefahr, auf die Prozentwerte jenes Stammwählerpotenzials zurückzufallen. Und dies gilt mitunter selbst dann, wenn tatsächlich Krisen auftreten – auch dies ist, wie die Corona-Krise gezeigt hat, kein Garant dafür, dass die AfD wieder jene Zugewinne erreicht, die momentan sichtbar sind. Diese Erkenntnis in Verbindung mit der Tatsache, dass die AfD – etwa im Gegensatz zur FDP – durchaus nicht nur den Anspruch hat, ein „Korrektiv“ zu anderen Parteien, ein „Zünglein an der Waage“ und eine Art politischer Wurmfortsatz, sondern Volkspartei neuen Typs zu sein bzw. bundesweit werden will, muss zu der alles bewegenden Folgefrage führen: Wie kommt sie über ihren Wählerstamm hinaus, ohne dabei von ihr zugeneigten Proteststimmungen abhängig zu sein? Wie vergrößert sie – langfristig – ihr Wählerpotenzial erheblich?

AfD muss sich für soziale Nöte offen zeigen

Der Autor dieser Zeilen hat an mehreren anderen Stellen bereits inhaltlich-programmatische Vorschläge zu dieser Frage gemacht, letztlich mit derselben Stoßrichtung, die auch einer der wohl klügsten Autoren in der rechten Sphäre, Benedikt Kaiser, mit seiner Vorstellung vom Solidarischen Patriotismus verfolgt. Die Demoskopie innerhalb wie außerhalb des rechten Spektrums hat mittlerweile mehrfach und hinreichend deutlich gemacht, dass die AfD keine Etepetete-Bürgerlichkeit à la Meuthen vertreten, sondern sich für soziale Nöte offen und ansprechbar zeigen muss, wenn sie erhebliche Wählerpotenziale nicht dauerhaft verlieren will (was ein Wiederbelebungsprogramm insbesondere für die LINKE wäre – wer naserümpfend von der „Jogginghosenfraktion“ fabuliert, hilft also am Ende der Ex-SED mehr als jeder Sozialpatriot es könnte). Das gilt aus wahlstrategischer, aber auch aus prinzipieller Sicht, denn ein Patriotismus ohne solidarische und soziale Komponente ist kein Patriotismus, sondern Neoliberalismus mit patriotischem Anstrich. Benedikt Kaiser hat in diesem Zusammenhang oft genug auf die Vorbildrolle der AfD-Ostverbände hingewiesen.

Jedoch: Auch diese Erkenntnis kann noch nicht alles sein. Neben jenen wahlstrategischen und programmatisch-prinzipiellen Dimensionen geht es hier noch um eine weitere, nämlich die habituell-stilistische. Wer Volkspartei werden will, muss, das ist das Gesetz der früheren Erfolge der ehemaligen Volksparteien Union und SPD, verschiedenste Wählermilieus ansprechen können. Soziologisch gesprochen bedeutet das: Die betreffende Partei muss verschiedene „Sprachen“ sprechen, verschiedene Lebensgefühle bedienen. Union und SPD ist dies zu früheren Zeiten gelungen, heute gelingt es ihnen ab und zu noch, meistens aber nicht mehr. Den Grünen hingegen gelingt es seit einigen Jahren immer häufiger: Sie sprechen linke Studenten und Schüler an, Frauen, links-urbanes Bürgertum, Akademiker und Besserverdienende aller Altersgruppen, wenn auch natürlich mit verschiedenen Gewichtungen. Tatsache jedoch ist: Es gelingt ihnen, Milieus anzusprechen, die lebensweltlich mitunter relativ weit voneinander entfernt liegen. Die 17-jährige Marie-Sophie vom örtlichen Gymnasium, die bei Fridays for Future mitmacht, hat mit dem grauhaarigen Zahnarzt Dr. med. dent. Bohrer-Schulze von nebenan habituell erst einmal nicht allzu viel gemein (höchstens die soziale Schicht, nicht aber das Milieu) – und doch machen sie ihr Kreuz bei der Wahl später mitunter beide bei den Grünen.

Das verbindende Element jener von den Grünen angesprochenen Milieus heißt: „Lebensgefühl“. Den Grünen gelingt es besser als jeder anderen Partei in der Bundesrepublik, stets so etwas wie ein inhärentes Lebensgefühl zu vermitteln, das von einer Art „übergreifenden Vision“ gekennzeichnet ist. Globalistisch zwar, und in fast jeder Hinsicht der AfD entgegengesetzt, aber in Form einer in sich geschlossenen, aus grüner Sicht positiven Zukunftsvision. An einer solchen in sich geschlossenen, in ihrem Fall rechtskonservativen Vision fehlt es der AfD bislang. Sie konzentriert sich noch immer sehr auf ihre oppositionelle Rolle und die damit einhergehende Position der Verneinung der bestehenden politischen Verhältnisse. Dies ist nicht zwingend falsch, kann und darf aber langfristig auch nicht alles sein.

Wähler wollen Authentizität

Der Putin-Biograf und Russland-Kenner Thomas Fasbender hat in einem Interview im neuen Heft der Zeitschrift Wir selbst eine bemerkenswert treffende Diagnose über, nennen wir es mal noch vorhandene politische Stellschrauben bei der AfD, angestellt. Wörtlich sagte er: „Hedonismus ist immer billig. Wer dagegen konservative Werte predigt, die alle mit Beschränkung, Verzicht und Bescheidenheit daherkommen, ist chancenlos. Gerade bei der ‚Alternative für Deutschland‘ gibt es diesen, sagen wir Vulgärkonservatismus. Dahinter verbergen sich solche Parolen wie Freie Fahrt für freie Bürger oder Weg mit dem Maskenzwang. Wenn Freiheit auf dem Niveau von Tempolimits definiert wird, ist das keine Freiheit im konservativen Verständnis. Die ‚schweigende Mehrheit‘, von der Kubitschek spricht, ist ganz sicher kein Hort konservativer Überzeugungen. Da hat er völlig recht. Vielleicht regt man sich dort heimlich über Gendersternchen auf, aber die Empörung über Gendersternchen macht Sie nicht zum Verfechter einer konservativen Gesellschaft.“


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Fasbender trifft hier einen wahren Kern, auch wenn der Autor dieser Zeilen dessen kulturpessimistische Schlussfolgerung daraus nicht teilt. Bei differenzierter Sicht gibt es durchaus auch politische Mehrheiten für Beschränkung, Verzicht und Bescheidenheit – nur müssten die gesellschaftlichen Eliten hier natürlich als Vorbilder vorangehen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Während weite Teile der sozial schwächeren Bevölkerungsschichten sich fragen, wie sie in den kommenden Monaten noch ihre Heizung, ihre Miete und sonstige Lebenshaltungskosten zahlen sollen, gibt es zeitgleich massive Krisengewinner unter Großkonzernen und deren Führungen, die sich an Krieg, Krise und deren Folgen letztlich eine goldene Nase verdienen, nicht zuletzt die Rüstungsindustrie. Hierzu hört man von der AfD bislang zu wenig, und überlässt diese offene Flanke allzu bereitwillig der im Sterben liegenden LINKEN und vereinzelten SPD-Stimmen. Das kann wohl schwerlich daran liegen, dass es sich bei den millionenschweren Vorständen und Aufsichtsräten sowie bei einigen wenigen milliardenschweren Familien um jene „Leistungsträger“ handelt, von denen Liberale schon Anfang der 2000er-Jahre immer allzu gern schwadronierten. Was Milliardenerbschaften und Manager-Boni in Relation zur Tätigkeit etwa von Krankenschwestern und Altenpflegerinnen mit besonderer „Leistung“ zu tun haben, konnte bisher kein „Bürgerlicher“ zufriedenstellend darlegen.

In einer Gesellschaft, in der derlei Eliten bei der Selbstbeschränkung und -disziplinierung mit gutem Beispiel vorangingen, wären konservative Werte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei der Normalbevölkerung wieder anschlussfähiger. Denn: Wähler sprechen auf eines gewiss an – Authentizität. Beliebtheitswerte von Politikern machen seit vielen Jahren immer wieder deutlich, dass besonders jene die Gunst des Wählers zu gewinnen imstande sind, die sich in seinen Augen durch eine spürbar hohe Übereinstimmung von Reden und Handeln – mit anderen Worten: persönliche Authentizität – auszeichnen. Beliebt ist, wem man abnimmt, dass er auch privat so ist, wie er öffentlich redet. Hätten wir es mit einer authentischen Elite zu tun anstatt mit Krisengewinnern und Wehrdienstverweigerern, die zu Kriegen hetzen, wäre auch eine höhere politische Autorität bei der gesellschaftlichen Verankerung nicht-hedonistischer Wertvorstellungen gegeben. So jedoch wird das natürlich nichts, und das aus gutem Grund.

Kein Vulgärkonservatismus, sondern Vulgär-Libertarismus

Doch Fasbender hat, wie gesagt, mit seinen kernigen Sätzen auch einen wichtigen Punkt getroffen, dem man allenfalls eine falsche Formulierung anlasten könnte: In Teilen (!) der (West-)AfD herrscht kein Vulgärkonservatismus vor, sondern Vulgär-Libertarismus – also ein Denken, das im Kern im Liberalismus, genauer gesagt in liberalen Framings wurzelt. So unsinnig manch eine Maskenregelung auch ist (die Frage nach der konkreten Bewertung jener von Fasbender exemplarisch genannten Parolen lassen wir an dieser Stelle mal bewusst außen vor), so offenkundig ist doch das Primat des „Ich-Ich-Ich!“, das allzu oft dahinter steht, und das in der Tat das Gegenteil eines konservativen Primats des „Wir“ ist, einer etatistischen anstatt vulgärlibertär-staatsskeptischen Haltung.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Konservatismus schließt keineswegs aus, die Corona-Maßnahmen der letzten zweieinhalb Jahre im Großen und Ganzen abzulehnen; im Gegenteil, es ist sogar richtig, dies so zu sehen. Entscheidend ist jedoch hier die individuelle Motivation hinter dieser Sichtweise: Lehne ich die Corona-Maßnahmen ab, weil ich sie von einem staatspolitischen und allgemeinwohlorientierten Standpunkt aus für unverhältnismäßig halte (bei gleichzeitiger Bereitschaft, im Falle einer echten Pandemie derlei harte Maßnahmen durchaus zu befürworten)? Oder lehne ich sie ab, nur weil ICH „keinen Bock“ auf Masken habe, weil ICH mich nicht einschränken will für andere, weil mir MEIN eigenes Wohl wichtiger ist und mich das Wohl etwa von Risikogruppen nicht interessiert? Im ersteren Falle hätten wir es mit einem konservativen Standpunkt zu tun; im letzteren hingegen mit einem egoistischen Vulgär-Libertarismus, der dem herrschenden hedonistisch-individualistischen Trend entspringt und der eigentlich in jedem aufrechten Konservativen Ekelgefühle wecken müsste.

Es ist durchaus nicht allzu weit hergeholt festzustellen, dass inzwischen einige Punkte im Forderungskatalog inhaltlich, vor allem aber auch stilistisch auf eine Art Stimulierung solcher vulgärlibertär-egoistischen Reflexe hinauslaufen. Dies ist jedoch langfristig auch für die AfD gefährlich, die sich dadurch zu oft reduziert auf Verneinung, auf ein diffuses, aus negativen Gefühls- und Lebenslagen mancher Wähler gespeistes Dagegen-Sein – anstatt auf eine positive Vision davon, wie das Deutschland von morgen aussehen soll. Hier kommt übrigens auch der von der jüngeren Generation oft gern gebrauchte Terminus „Boomer“ ins Spiel – ein Begriff, der mittlerweile eigentlich, trotz seines Wortursprungs, weniger für eine bestimmte Generation („Babyboomer“) steht, sondern vielmehr für die oft, aber eben auch nicht immer dahinterstehende Lebenshaltung: Diffuse Sehnsucht nach der 80er-Jahre-BRD und -CDU, Idealisierung von persönlichen Freiheiten (Rasen, Rauchen, Umwelt verschmutzen, vom Kohl-Staat in Ruhe gelassen werden), gleichzeitig Meckern und Schimpfen über die ach so dekadente Jugend trotz eigenen Genusses höchsten Wohlstands.

Warum die AfD auf manche Wählerschichten unattraktiv wirkt

AfD-Wähler sind – im Gegensatz zu vielen Wählerschaften anderer Parteien – oft unzufrieden mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Dies ist in jeder Form berechtigt, und es ist wichtig, dass die AfD diese Unzufriedenheit kanalisiert und artikuliert – dies ist sogar ihre Aufgabe, gerade als Oppositionspartei, und gerade als das, was ihr fälschlicherweise immer abgesprochen wird, nämlich als demokratische Partei. Es gibt bei dieser Lage jedoch auch einen Haken: Der Schritt von der gesellschaftlichen Makro- hinunter zur persönlichen Mikro-Ebene ist oft nicht allzu groß. Mit anderen Worten: Wer mit der gesellschaftlichen Gesamtsituation sehr unzufrieden, ja über diese sehr wütend ist (und dies ja durchaus zurecht), ist nicht selten auch über seine persönliche Situation wütend und unzufrieden. Hier vermischen sich dann – gerade beim „Boomer-Klischee“ – polit-psychologische Faktoren wie Angst vor bürgerlichem Statusverlust (Makro-Ebene) einerseits mit individual- und sozialpsychologischen Faktoren andererseits (Frust über das eigene Altwerden, Krankheit, Pessimismus, Filterblasen-Gruppendenken in sozialen Netzwerken und daraus generiertes sich gegenseitiges Bestätigen in der eigenen Unzufriedenheit; bei jungen Männern auch „Incel“-Dauersingle-Frust etc.) (Mikro-Ebene). Diese psychisch ungesunde Mischung führt in nicht wenigen Fällen zu einer Art kumulierten negativen Energie, die sich dann in Form von unschönen öffentlichen Äußerungen und gegenseitigen, innerparteilichen Aggressionen entlädt, die dann hinterher mediale Schlagzeilen machen und die AfD für genau jene Wählerschichten, die sie erreichen müsste, um Volkspartei zu werden, unattraktiv machen.

Um diese hochgestochene soziologisch-sozialpsychologische Analyse mal etwas plastischer zu machen: Wenn eine AfD-milieuferne junge Frau Mitte 20, die an sich, vielleicht auch aus persönlichen Erfahrungen heraus, mit dem migrationskritischen Programm der Partei vieles anfangen kann, bei einem örtlichen Partei-Stammtisch auf eine Runde zwei bis drei Stunden lang nur vor sich hin schimpfender älterer Männer trifft, laut, anderen ins Wort fallend, in aggressiver Pose, jeden Optimismus, jede abweichende Attitüde oder in Detailfragen alternative Positionierung sofort schlechtmachend, in Einzelfällen gar jeden, der nicht an Echsenmenschen oder Flat Earth glaubt, sofort als naiven Systemling hinstellend – dann wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass sich diese eigentlich auch migrationsskeptische, zuvor AfD-offen gewesene junge Frau mit Grausen abwendet. Eine unvermeidliche Folge, wenn eine Partei sich zu sehr auf ein Milieu und einen bestimmten Habitus konzentriert und dabei andere außen vor lässt – basierend auf vulgär-libertären Affekten. Wer jedoch Volkspartei werden will, muss sich aus diesen Mustern befreien – und das möglichst schnell.


Zur Person:

Dr. Florian Sander, geboren 1984, studierte Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Bielefeld. Er publiziert in verschiedenen patriotischen Medien.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Stellenausschreibugn - AfD Sachsen

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