Freilich #32: Süchtig nach dem Kick

Neues Buch von Münkler: Wie geht es im Westen weiter?

Der transatlantische Westen war für die Europäer eine äußerst kostengünstige Lösung ihrer Sicherheitsprobleme. Trump demoliert nun immer mehr das westliche Bündnis. Herfried Münkler erklärt, wie Europa mit Trump umgehen sollte.

Kommentar von
30.3.2025
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5 Minuten Lesezeit
Neues Buch von Münkler: Wie geht es im Westen weiter?

Eine Zeitenwende wurde hierzulande seit dem Ukrainekrieg mehrfach ausgerufen. Man redet in Europa schon längst von der neuen Ära und der Rückbesinnung auf die europäische Souveränität. Alles sicherlich nicht falsch, was seit der Münchner Sicherheitskonferenz 2025 nach der Rede von J. D. Vance geschehen ist. Herfried Münkler, inzwischen emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, der sich seit Jahren mit Krieg und Kriegsführung, mit dem Auf und Ab von Nationalstaaten und Imperien beschäftigt, widmet sich in seinem neuen Werk der geopolitischen Zeitenwende und der Abkehr der USA von Europa unter der Trump-Administration.

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Die USA setzten nach 1948 darauf, die im Osten und Westen jeweils gegenüberliegende Küste in einem amerikanisch dominierten Bündnissystem zu integrieren. Die Voraussetzung für das Funktionieren dieser Allianzen war, dass die USA in höherem Maße als die Verbündeten selbst für deren Sicherheit sorgten. Das erfolgte vor allem durch das Aufspannen atomarer Schutzschirme. Als Gegenleistung beanspruchten die USA die Hegemonialposition innerhalb der Bündnissysteme. Die Kosten und Lasten dieser Sicherung der Gegenküste konnten sie sich über Jahrzehnte leisten.

Zeitenwende: Europas Rückbesinnung auf Souveränität

Das habe sich aber nun geändert, seitdem der Anteil des US-amerikanischen Bruttoinlandprodukts an der globalen Wertschöpfung prozentual gesunken sei und die USA sich im Nahen und Mittleren Osten auf politische Herausforderungen eingelassen habe. Münkler räumt ein: Die US-Interventionen haben die Region eher destabilisiert, als ihr eine geordnete Entwicklung verschafft.

Als Reaktion auf das daraus erwachsene Gefühl der Überforderung haben US-Regierungen sich aus der Rolle eines „Hüters der globalen Ordnung“ zurückgezogen und damit begonnen, ihr Engagement in Europa zurückzufahren, um sich langfristig auf den indopazifischen Raum zu konzentrieren. Münkler glaubt, Europa werde in der Folge in eine „Mittellage“ geraten, in der es sich entscheiden müsse, ob es eher nach Westen oder aber nach Osten gute Beziehungen unterhalten will. Es sei zu erwarten, dass das auf eine Zerreißprobe innerhalb der EU und des europäischen Armes der NATO hinauslaufen werde.

Der Versuch einer neuen Definition

Der „transatlantische Westen“ war eine für die Europäer überaus kostengünstige Lösung ihrer Sicherheitsprobleme – nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren, wenn man etwa in Rechnung stellt, dass nahezu alle Hinweise auf die Vorbereitung von islamistischen Terroranschlägen bisher von US-amerikanischen Diensten kamen, die das Internet in Europa offenbar sehr viel genauer überwachen als die Europäer selbst. Angesicht der durch Trump infrage gestellten transatlantischen Beziehungen versucht nun Münkler in seinem neuen Buch, den Westen neu zu definieren.

Nicht zuletzt die Distanznahmen der USA gegenüber Europa sowie die Europas gegenüber den USA dürften dazu geführt haben, dass inzwischen immer häufiger die Europäische Union gemeint sei, wenn vom „Westen“ die Rede ist. Für den renommierten Politikwissenschaftler gibt es offenbar zwei Alternativvarianten zu dem transatlantischen Westen: „Ein europäischer Westen“ oder „ein globaler Westen“ als Alternative zu dem politisch auf der Kippe stehenden transatlantischen Westen bringe Herausforderungen mit sich, bei denen sich erst noch zeigen müsse, ob die Europäer ihnen gewachsen sein werden – in finanzieller wie in politischer Hinsicht.

Neudefinition des Westens: Europäisch oder global?

Wenn der Westen auf der Grundlage einer wertebezogenen Identität definiert wird, so ist er geografisch nicht festgelegt, und ebenso wenig ist er über bestimmte Regionen und Himmelsrichtungen definierbar. Münkler nennt diesen geografisch entgrenzten Begriff des Westens den „globalen Westen“. Es ist keine geopolitische, sondern eine wertepolitische Einheit. Nach der Abkehr der USA von Europa muss die EU demnach den Wertewesten führen. Die Frage lautet nun, ob dieser verkleinerte und geschwächte Westen überhaupt die Fähigkeit hat, sich selbst zu behaupten und sich global durchzusetzen.

Die Frage der Grenzen, die nach 1989/91 erheblich an Bedeutung verloren hatte, ist politisch wieder brisant geworden, und es spricht viel dafür, dass Grenzfragen auf unabsehbare Zeit die politische, wirtschaftliche und kulturelle Agenda der Europäer dominieren werden. In diesem Kontext redet Münkler von einem europäischen Westen. Mit den Grenzen sind immer auch Fragen der eigenen Wertebindung verknüpft. Insofern korrespondieren Geopolitik und Wertrefragen in einer Art und Intensität miteinander, wie sich das kaum jemand vorstellen vermochte, als man vor mehr als drei Jahrzehnten glaubte, die Ära der machtgestützten Realpolitik sei zu Ende und eine Epoche der humanitären Wertepolitik habe begonnen. Um es genauer zu pointieren, schreibt Münkler, die Grenzziehungen der geopolitischen Räume seien auch zu Grenzen der Geltung beziehungsweise des „Geltendmachens von Werten“ geworden.

Vor diesem Hintergrund resümiert Münkler: Das Festhalten am Westen heißt entweder, in einem den westlichen Werten verpflichteten, aber geopolitisch auf sich allein gestellten Europa (westliches Europa) strategische Autonomie herzustellen oder aber die europäischen Anstrengungen zur Verteidigung des „globalen Westens“ so zu steigern, dass sie auch für den indopazifischen Raum relevant sind.

Der globale Westen: Werte ohne Geografie

Münkler zählt drei große Herausforderungen auf, mit denen er die EU konfrontiert sieht. Zunächst die politisch-militärische Bedrohung durch Russland, das – wie auch immer der Ukrainekrieg ende – die Europäer weiterhin mit nuklearen Drohungen unter Druck setzen werde. Als zweite große Herausforderung benannte Münkler die Abkehr der USA von Europa, die durch die Wahl Trumps zum 47. Präsidenten eine zusätzliche Dramatik erhalten habe: durch seine demonstrative Verachtung für die Europäer sowie durch die Unberechenbarkeit und damit Unberechenbarkeit seiner Entscheidungen. Als dritte Herausforderung macht Münkler den Import hochsubventionierter chinesischer Produkte in den Europäischen Wirtschaftsraum aus, insbesondere den von Elektroautos.

Er argumentiert dafür, dass die EU entsprechende Abwehrmaßnahmen ergreifen müsste, um seinen Wirtschaftsraum zu schützen. Zugleich unterstrich Münkler in seinem Buch an mehreren Stellen, dass Europa nicht zum gefügigen Juniorpartner der USA in deren Wirtschaftskrieg gegen China werde: Je strikter der Ausschluss Chinas vom amerikanischen Markt sein werde, desto größer dürften die Chancen der Europäer ausfallen, die chinesische Politik in dieser weitreichenden Frage zu Kompromissen zu bewegen, da China kein Interesse daran haben könne, dass sich die EU notgedrungen der US-amerikanischen Strafzollpolitik anschließe.

Europas strategische Autonomie: Zwei Wege des Westens

Das Problem der Europäer, so Münkler, sei, dass sie sich durch den Zerfall der westlichen Gemeinschaft in einer geopolitischen Sandwichposition befänden: Von der russischen Seite werden sie fortgesetzt mit nuklearen Drohungen eingeschüchtert, und von US-amerikanischer Seite werden sie seit der ersten Präsidentschaft Donald Trumps politisch erpresst. Diese Auseinandersetzung wird die Europäer – und insbesondere die Deutschen als die Macht in der Mitte – in der nächsten Zeit neuerlich beschäftigen. In ihr wird sich nach Münkler entscheiden, ob die EU oder auch der europäische NATO-Flügel zusammenhalten und einen geopolitisch relevanten Akteur formen kann oder ob Europa zerfällt und die dann vereinzelten Staaten zu Fußabtretern der imperialen Mächte Russland, China und USA werden.

Münkler ist der Ansicht, dass sowohl die AfD als auch das BSW antiwestliche und russlandaffine Präferenzen hätten und insofern als „Rollschuhe eurasischer Geopolitik“ in Deutschland dienen können. Aber auch Münkler ist in seiner Analyse der europäischen Situation nicht neutral, sondern eher westlich-amerikanisch orientiert. Er plädiert in seinem Buch für einen „globalen Westen“ unter europäischer Führung, ein Konzept, das letztlich eine Fortsetzung des amerikanischen Traums in europäischem Gewand ist. Was den „europäischen Westen“ betrifft, so betont Münkler zwar die Bedeutung der Geopolitik und der Wertebindung in diesem Zusammenhang, führt dieses Konzept aber nicht weiter aus, weil er offenbar fürchtet, dass sein liberales Weltbild zusammenbrechen könnte.


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Über den Autor

Seyed Alireza Mousavi

Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.

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