„Oreschnik“: Russlands neue Rakete und das Dilemma der westlichen Allianzen

In der Elegie „Nux“ klagt ein Nussbaum über die Gewalt der Menschen, die ihn ohne Rücksicht auf seine Würde behandeln. In seinem Kommentar für FREILICH zieht der Autor Ilia Ryvkin Parallelen zur heutigen geopolitischen Situation, in der die westliche Hilfe für die Ukraine den internationalen Machtkampf verschärft.

Kommentar von
26.11.2024
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4 Minuten Lesezeit
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Cäsar hat jedoch nicht nur in der Hauptstadt Frieden gestiftet,

Breitete helfend die Hand bis zu den Enden der Welt.
Doch warum treffen mich Steine am Tage, im strahlenden Lichte?
Ist mir alleine verwehrt, was doch die Erde erfüllt?

Die Autorschaft jener Elegie, die Ovid zugeschrieben wird, ist unter Gelehrten strittig. Der Text schildert die Klage eines Nussbaums, der von Straßenjungen mit Steinen beworfen wird, um an seine Früchte zu gelangen. Der Baum fleht dabei um einen schützenden Zaun, eine Macht, die ihn vor der Gewalt bewahrt – eine ewig-imperiale Metapher. Der Titel „Nux“, also „Nussbaum“ (russisch: „Oreschnik“), der Titel des Werks, verweist auf ein Dilemma, an dem sich die Welt derzeit die Zähne ausbeißt.

Die neueste russische Hyperschallrakete ist eine revolutionäre ballistische Waffe mittlerer Reichweite, weltweit ohne Vergleich. Ihre Reise beginnt bei 2–3 km/s und endet bei Mach 10 (12.300 km/h) – eine Geschwindigkeit, die ihresgleichen sucht. Die Rakete trägt mehrere Sprengköpfe, die sich vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre trennen und unabhängig voneinander auf verschiedene Ziele zurasen. Jeder Sprengkopf, der sich wie ein eigenständiger Jäger präzise auf sein Ziel zubewegt, kann auch mit nuklearer Ladung ausgestattet werden. Vielleicht erinnerte das Bild der sich lösenden Köpfe jemanden an ein Bündel Haselnüsse – daher der Name.

Der geplatzte Vertrag

Der aktuelle Raketenstreit hat sich nicht über Nacht entwickelt. Es war kein anderer als Trump, der 2019 den INF-Vertrag platzen ließ – das Abkommen, das landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit mittlerer Reichweite verbieten sollte. Dieser Vertrag, den die Sowjetunion und die USA 1987 unterzeichnet hatten, untersagte die Produktion, Tests und Stationierung solcher Systeme. Raketen auf Schiffen oder in Flugzeugen waren von der Regelung nicht betroffen. Mit dem Ausstieg aus dem INF-Vertrag zogen die USA Raketenabwehrsysteme nach Europa, offiziell als Antwort auf die Bedrohung durch den Iran. Diese Systeme sind jedoch auch kompatibel mit Tomahawk-Mittelstreckenraketen, die von den USA weiterhin maritim eingesetzt werden.

Geschwindigkeit und Präzision

Vor kurzem gab Wladimir Putin bekannt, dass die Serienproduktion der „Oreschnik“-Rakete gestartet sei. Er kündigte zudem neue Tests im Gefechtseinsatz an und machte deutlich, dass andere Staaten in Zukunft möglicherweise ähnliche Systeme entwickeln könnten. „Das könnte morgen oder in einem Jahr sein“, so der russische Präsident, „entscheidend ist, dass Russland diese Technologie bereits besitzt.“ Das „Oreschnik“-System sei, so Putin weiter, keineswegs ein Relikt sowjetischer Ingenieurskunst, sondern „das Produkt der Fachkräfte des neuen Russland“.

Um die Bedeutung des „Oreschnik“-Systems zu begreifen, lohnt sich ein Blick auf seine Funktionsweise. Im Gegensatz zu Marschflugkörpern, die sich in niedrigen Höhen mit präziser Manövrierfähigkeit fortbewegen, folgen ballistische Raketen wie „Oreschnik“ einer parabolischen Flugbahn, die sie nach dem Start in die Stratosphäre schickt, wo sie mit Schub und Schwerkraft extrem hohe Reichweiten erreichen – von interkontinental bis orbital.

Die „Oreschnik“-Rakete kombiniert Geschwindigkeit und Präzision: Mit Hyperschallgeschwindigkeit in der Flugbahn und außergewöhnlicher Manövrierfähigkeit im Zielbereich übertrifft sie sowohl die Leistung herkömmlicher ballistischer Raketen als auch die der klassischen Marschflugkörper, wodurch sie allen bekannten Abwehrsystemen überlegen ist. Der Raketenstart erfolgte nicht wie gewohnt von Flugzeugen oder Schiffen, sondern von einer eigens konzipierten Bodenplattform.

Nur elf Minuten bis nach Deutschland

Von Polen bis hin zu den baltischen Staaten und dem Vereinigten Königreich – dieses System kann in ganz Europa zuschlagen. Auch Finnland und Schweden, die kürzlich der NATO beigetreten sind, fallen in den Radius dieses Systems. Die Anflugzeiten der „Oreschnik“ sollen wie folgt sein: Großbritannien – 19 Minuten, Polen – 8 Minuten, Belgien – 14 Minuten und Deutschland – 11 Minuten.

Russische Memes nennen übrigens „Oreschnik“ die Antwort auf den von einer amerikanischen Umweltbehörde verschuldeten Tod des Eichhörnchens „Peanut“. Die Rakete entfaltet mit ihrem Aufprall im Werk „Juschmasch“ eine fast künstlerische Ästhetik: Ein feuriger Trichter durchbricht den Himmel, berührt die Erde und zieht einen Teil der Wirklichkeit empor – als stünde ein Herbstbusch in glühender Pracht. Es fällt mir schwer, etwas Ästhetisches daran zu finden, dass eine Waffe von solch ungeheurem Zerstörungspotential auf mein Zuhause und auf die Menschen, die mir am Herzen liegen, gerichtet ist.

„Keine roten Linien“

In den vergangenen Monaten tauchen immer wieder Prophezeiungen auf, die sich ein Raketen-Ultimatum als den dramatischsten Wendepunkt der Krise ausmalen. Diese Konfrontation wurde oft mit zwei aufeinander zurasenden Fahrzeugen verglichen, wobei es darum geht, wer als Erster den Kurs durch eine Drehung des Lenkrads verlässt. Der Große Teich mag für russische Raketen unerreichbar sein, doch in Europa hält man unbeirrt an der halsbrecherischen Mutprobe fest.

So erklärte der Pariser Schnösel Jean-Noël Barrot, mit einem gezierten Lächeln, Frankreich solle „keine roten Linien kennen“, wenn es darum gehe, „der Ukraine zu helfen“. Ein frisch ernannter Außenminister, dessen politische Karriere in internationalen Angelegenheiten kaum einen Fußabdruck hinterlassen hat. Öffentliche Quellen bieten keine Auskünfte über seine familiären Verhältnisse, was, im Licht der eigenwilligen Personalpolitik des heutigen Élysée-Palastes, gewisse Hintergründe seines rasanten Aufstiegs vermuten lässt. Hier wird das Private zum Politischen: Verantwortung und Vorhersehbarkeit eines Entscheidungsträgers erwachsen einzig aus menschlichen Bindungen.

Was bedeutet die westliche Hilfe für die zwangsrekrutierten Ukrainer? Ist es ihr Schicksal, in einem nuklearen Inferno für eine fremde Agenda zu verglühen? „In diesem Konflikt dreht sich alles um die Frage, wer das Geld einsackt!“ – erklärt unverblümt der Kongressabgeordnete Lindsey Graham, ein wahrer Held des militärisch-industriellen Komplexes, „Die unermesslichen Vorkommen von Seltenerdmetallen hier werden auf 2 bis 7 Billionen Dollar taxiert.“

Ackerland in fremder Hand

Auch das saftige, fruchtbare Ackerland weckt Begehrlichkeiten: „Die Vereinigten Staaten sollen es bekommen, nicht die Russen“. Schließlich haben die USA das natürliche Recht, sich das Beste vom Besten zu sichern – auch wenn es sich dabei um den Ackerboden eines anderen Landes handelt. Laut Berichten der Australian National Review, der amerikanischen Auckland University und des Wall Street Journal befinden sich satte 77 Prozent des ukrainischen Ackerlandes in den Händen ausländischer Unternehmen, vor allem Monsanto, Cargill und Dupont sowie auch europäischer, saudischer und chinesischer Firmen.

Die Souveränität der einst stolzen Nation über ihr eigenes Land gehört wohl längst der Kategorie „schöner Schein“ an. Unter der angeblichen „Hilfe“ könnte sich in Wahrheit die endgültige Entvölkerung eines rohstoff- und ackerbodenreichen Gebiets verbergen.

Ich bin weder Pazifist noch Anarchist, und eine Utopie wie John Lennons „Imagine“ bleibt mir fremd. Eine wehrhafte Staatsordnung ist unerlässlich, um den Frieden zu bewahren, in diesem Sinne verstehe ich die Klage des antiken Dichters nur zu gut. Anders als diejenigen, die sich am Tod berauschen, ziehe ich die stille Würde eines Haselstrauchs den lautesten Waffen der Gegenwart vor.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Ilia Ryvkin

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

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