Unsere rote Linie: Die Frage der deutschen Russlandpolitik
Der folgende Text steht unter einem großen Vorbehalt. Er beruht auf der Annahme, dass wir uns nicht bereits jenseits des Datums befinden, welches künftige Historiker einmal als den Ausbruch des Dritten Weltkrieges festlegen werden.
Die Chance entspricht gegenwärtig einem Münzwurf. Das deutsche Militär und der gesamte restliche Staat, insbesondere die Energieversorgung, sind dermaßen heruntergewirtschaftet, dass die Frage nach kluger deutscher Politik in diesem Fall recht schnell und ernüchternd zu beantworten ist: Sie könnte aus kaum mehr bestehen, als darin, sich zum richtigen Zeitpunkt auf die Seite des Siegers zu schlagen, wer immer dieser Sieger auch sein mag.
Stattdessen gehen wir im Weiteren von einem Szenario aus, in welchem die tektonischen Verschiebungen der Geopolitik sich nicht in einem Erdbeben entladen, sondern genügend Zeit lassen, das Schiff auf Vordermann zu bringen und eine deutsche Politik zu verfolgen.
Während die Russen im Donbas einmal mehr demonstrieren, dass auch Luftschlösser von Artilleriebeschuss Schaden nehmen. Stellt sich für Deutschland eine Frage, von der wir so entwöhnt sind, dass sie niemandem in den Sinn zu kommen scheint: Wo ist unsere, die deutsche rote Linie gegenüber Russland, wenn der Versuch, die NATO in den Kaukasus auszudehnen, scheitert?
Der Rahmen deutsch-russischer Beziehungen
Unter Schröder und Merkel hat Deutschland die Osterweiterungen von NATO und EU mitgetragen, gleichzeitig aber versucht, die Amerikaner soweit zu bremsen, dass eine direkte Konfrontation mit Russland vermieden wird. Das war die Grundlinie deutscher Osteuropapolitik für zwei Jahrzehnte und fand seinen Höhepunkt im Minsk 2 Abkommen von 2015, welches den Konflikt in der Ukraine für weitere sieben Jahre einfror.
Diese Grundlinie beruhte jedoch trotz ihrer Skepsis gegen endlose Erweiterung der NATO auf eben dieser Nordatlantischen Allianz in ihrer Konfrontationshaltung gegenüber Moskau. Solange man die Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden prinzipiell in Washington abgegeben hatte und Washington in Osteuropa umfassendere Ansprüche anmeldete als wir, stellte sich nie die Frage, wo eigentlich unsere Lebensinteressen gegenüber Russland bestehen. Es gab damals keine vollständige deutsche Russlandpolitik und es gibt sie bis heute nicht. Die Überdehnung der NATO in Osteuropa gegenüber dem wiedererstarkten Russland zwingt uns zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg dazu, die Beziehung zu einem mächtigen Nachbarstaat selbständig zu gestalten, ohne die Bündnislogik als letzter Instanz.
Eine solche Politik müsste sich zunächst darüber im Klaren werden, innerhalb welchen Rahmens die deutsch-russischen Beziehungen für uns akzeptabel wären. So wie Putin entscheiden hat, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine für Russland nicht akzeptabel ist, müssen wir uns nun fragen, wo unsere roten Linien sind.
Bei aller Propaganda gegen Putin wird in Deutschland kein Gedanke daran verschwendet, welche lebensnotwendigen Interessen wir gegenüber Russland wahren müssten.
Um es in der notwendigen Deutlichkeit zu formulieren: Bei der Überschreitung welcher Grenze, bei der Verletzung welchen Interesses unserer Nation würden wir gegen Russland in den Krieg ziehen? Nicht „unseren Beitrag innerhalb der NATO leisten“. In den Krieg ziehen. Nötigenfalls alleine.
Seemacht, Landmacht, Küstenmacht
An dieser Stelle ist die wichtigste geopolitische Bedingtheit der deutschen Lage herauszustellen: Deutschland ist keine Seemacht, aber auch nicht, wie oft dann angenommen, eine Landmacht. Wie alle anderen kontinentaleuropäischen Staaten und überhaupt die Mehrheit der Staaten dieser Welt fällt es nicht in eine dieser beiden klassischen geopolitischen Kategorien.
Warum? Um eine Seemacht zu sein, bedarf es der Insellage, wie England und Japan sie vollständig, die Vereinigten Staaten sie in praktischer Hinsicht besitzen. Die Insellage erst erlaubt, die Hauptlast der Territorialverteidigung vom Heer auf die Flotte zu verlagern. Ohne die Insellage werden die für eine Seemacht notwendigen Ressourcen vom Heer aufgesogen.
Eine Landmacht hingegen bedarf der Unabhängigkeit vom Seehandel durch weitgehende Rohstoffautarkie, welche nur durch außerordentlichen Land- und Rohstoffreichtum bei geringer Bevölkerungsdichte erreicht werden kann. Das einzige Land, welches heutzutage überhaupt noch Landmacht sein kann, ist Russland.
Fast alle anderen Staaten, Deutschland eingeschlossen, möchte ich dagegen als Küstenmächte bezeichnen. Obwohl nach den Erfahrungen der letzten zweihundert Jahre Küstenohnmächte vielleicht der bessere Ausdruck wäre.
Das Verhängnis der Küstenmächte ist seit dem Beginn der Industrialisierung, dass sie zur Landesverteidigung auf ein Heer, zum wirtschaftlichen Überleben jedoch auf den Seehandel angewiesen sind, der nur durch eine starke Flotte zu sichern ist. In den vergangenen zwei Jahrhunderten sind vom napoleonischen Frankreich bis zum nationalsozialistischen Deutschland alle Küstenmächte an dieser Doppelbelastung zerbrochen, die gegenüber der russischen Landmacht und der englischen, später amerikanischen Seemacht eine Stellung auf Augenhöhe beanspruchten.
Deutschland ist seit Bismarcks Tagen ein Land, das importieren und exportieren oder verhungern und erfrieren muss. Deutsche Sicherheitspolitik ist Versorgungssicherheitspolitik. Da es für Deutschland als einer Küstenmacht von kaum über 80 Millionen Einwohnern nicht möglich ist, die wesentlichen Rohstoffquellen und ihre Transportwege unter eigener militärischer Kontrolle zu halten, bleibt nur der Versuch, eine Situation zu verhindern, in der sämtliche dieser Quellen und Wege unter die Kontrolle einer einzigen fremden Macht gerieten.
Rohstoffe für Deutschland
Rohstoffe erreichen Deutschland auf drei unterschiedlichen Wegen:
Erstens der Landweg nach Russland.
Zweitens der Seeweg, der heute unter amerikanischer Kontrolle ist, und, wenn die Vereinigten Staaten der Volksrepublik nicht sehr schnell das Rückgrat brechen, morgen unter chinesischer Kontrolle sein wird.
Drittens, wenn auch in einem sehr viel engeren Rahmen, der Weg über den Balkan in den Mittleren Osten, an dessen Flaschenhals die Türkei sitzt.
Über den Seeweg haben wir keine Kontrolle und werden das auch niemals ändern können. Es steht überhaupt in Frage, ob in Zeiten der Gebietsverweigerungswaffen, von U-Booten abgefeuerter Marschflugkörper und ähnlichem, offene Seewege überhaupt erzwingbar sein werden.
Ebensowenig werden wir die militärische Kontrolle über das Chaos des Mittleren Ostens gewinnen.
Die Bedeutung Russlands für Deutschland besteht darin, dass es der einzige namhafte Rohstofflieferant ist, zu dem Deutschland die Verkehrswege aus eigener Kraft offenhalten kann! Ebenso wichtig ist, dass die Rohstoffzufuhr aus Russland am wenigsten komplex ist, weil sie nur von einem einzigen Gegenüber, der Russischen Föderation abhängt. Alle anderen Optionen können durch eine Vielzahl von Akteuren gestört werden, von denen die meisten außerhalb des Bereiches leben, in welchem Deutschland Macht projizieren kann. Auf dieser Einfachheit der Verhältnisse beruhte die bekannte Zuverlässigkeit russischer Lieferungen in den letzten Jahrzehnten.
Abhängigkeiten minimieren
Aus dieser Lage entsteht unvermeidlich eine große Abhängigkeit. Diese zu minimieren muss Ziel deutscher Politik sein. Im Gegensatz zu den naiven Vorstellungen, die gerade durch die deutsche Politik geistern, lässt sich das nicht dadurch erreichen, dass man den russischen Anteil am deutschen Rohstoffimport senkt. Nicht nur brächte uns dies notwendigerweise in größere Abhängigkeit zu anderen, weit volatileren Akteuren und Akteurskonstellationen, es ist noch nicht einmal sicher, dass die Abhängigkeit von Russland selbst notwendigerweise sänke. Ohne langfristige Lieferverträge könnte Russland im Falle einer Notlage, etwa einem großen Krieg im Mittleren Osten, so ziemlich alles verlangen, ohne seinen internationalen Ruf als zuverlässiger Lieferpartner zu gefährden.
Der russische Anteil am deutschen Rohstoffbedarf ist gar nicht der entscheidende Punkt. Wichtig ist vielmehr, dass Russland keine Kontrolle über unsere Alternativen zu seinen Bodenschätzen gewinnt. Das ist die einzige Möglichkeit, der Abhängigkeit von Moskau entgegenzuwirken. Daraus ergeben sich die Grenzen, die Deutschland russischem Vordringen in Europa setzen muss, weil andernfalls lebensnotwendigste Interessen gefährdet würden:
Keine dieser Grenzen liegt am Don. Abgesehen davon, dass der Versuch, Russland 300 Kilometer vor Stalingrad in die Schranken zu weisen, wahnwitzig ist .
Die erste rote Linie verläuft an der russisch-skandinavischen Grenze, weil von Skandinavien aus ohne weiteres der deutsche Seeverkehr lahmgelegt werden kann. Die zweite rote Linie verläuft auf dem Balkan entlang des Bogens Ungarn-Rumänien-Bulgarien in Richtung der Türkei. Dass die Türkei ein eigenständiger Akteur bleibt und nicht zur Marionette irgendeiner anderen Macht wird, ist eines der wesentlichsten Interessen deutscher Sicherheitspolitik, weil sämtliche Öl und Gaslieferungen, welche uns aus dem Mittleren Osten auf dem Landweg erreichen können, durch die Türkei hindurch müssen.
Die wichtigste Aufgabe deutscher Außenpolitik im kommenden Jahrzehnt wird darin bestehen, eingedenk deutscher wie russischer Lebensinteressen eine Sicherheitsordnung für Osteuropa zu entwerfen.
Zur Person:
Johannes K. Poensgen, geboren 1992 in Aachen, studierte zwei Semester Rechtswissenschaft in Bayreuth, später Politikwissenschaft und Geschichte in Trier. Erreichte den Abschluss Bachelor of Arts mit einer Arbeit über die Krise der Staatsdogmatik im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Befasste sich vor allem mit den Werken Oswald Spenglers und Carl Schmitts.