Umfragen: Die Stunde der Meinungsforscher
Seit jeher fließen die Grenzen zwischen Meinungsforschung und Meinungsmache. Was früher als unausgesprochen Wahrheit galt, wird heute strikt in Abrede gestellt. Dabei häufen sich die empirischen Belege für das Gegenteil.
„An Umfragen soll man lediglich schnuppern. Nicht inhalieren“, betonte stets der Demoskop Wolfgang Bachmayer vom Meinungsforschungsinstitut OGM. Hingegen befolgen andere die Leitsätze der „Dog Whistle Policy“ des amerikanischen Demoskopen Richard Morin: die Fortsetzung der Politik mittels Umfragen. Im Superwahljahr schlägt nun die Stunde der Meinungsforscher. Ein Blick auf die Abweichungen der Vergangenheit lässt Schlussfolgerungen zu, ob die Prognosen dem einen oder dem anderen Prinzip entsprangen. Treffsicherheit über einen längeren Zeitraum hinweg ist jedenfalls die Visitenkarte der 1976 gegründeten Österreichischen Gesellschaft für Marktforschung, OGM. Als einziges Institut für Demoskopie führt es ein Archiv prominent auf der Homepage. So besteht für die Prognosen in der Zeit von 1994 bis 2022 bei bundesweiten Wahlen lediglich eine Abweichung von 0,9 Prozent pro Partei. Bei Landtagswahlen von 1994 bis 2023 sind es 1,3 Prozent je Partei.
Die Betonung der Überparteilichkeit von Meinungsforschern ist relativ jung. Der rustikale SPÖ-Seniorenvertreter Karl Blecha gründete in den 60er-Jahren das Institut für empirische Sozialforschung (IFES). Dieses fungierte als demoskopischer Geleitschutz für die Ära Kreisky. Arbeiterkammer (AK) und Österreichischer Gewerkschaftsbund (ÖGB) nützen besagte Dienste ebenfalls gerne. Das Gegenstück der ÖVP ist das Fessel-Institut gewesen, welches später den Beinamen Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) annahm. Begründet wurde die Fessel-GfK durch Rudolf Bretscheider. Dieser sitzt nunmehr im Kuratorium von Demox. Daneben existiert das M & R Institut von Franz Sommer als schwarzer Kampagnenbegleiter.
Stallgeruch kann wichtig sein
Unverkennbar sozialdemokratischen Stallgeruch trägt auch das Sozialforschungsinstitut SORA. Von Günther Ogris und Christoph Hofinger 1996 gegründet, konnte man sich die Wahltagsbefragungen für Hochrechnungen sowie die Wählerstromanalyse für den ORF sichern. Das Kampagnenangebot an die SPÖ, welches öffentlich wurde, führte zum Verlust des Kunden ORF. Was Kunden anbelangt, legen Einrichtungen wie Market oder IMAS in der Kommunikation besonderen Wert auf parteipolitische Neutralität. So generiert Market drei Viertel seiner Aufträge aus dem „unpolitischen Bereich“.
IMAS, das Institut für Markt- und Sozialanalysen, seit 1972 in Linz gelegen, wurde durch den Doyen der Demoskopie in Österreich, Andreas Kirschhofer-Bozenhardt, aus der Taufe gehoben. Zuvor konnte dieser umfangreiche Erfahrungen beim deutschen Allensbach-Institut sammeln. Nunmehr erscheint der monatliche IMAS-Report unter der Ägide von Paul Eiselsberg. Ein anderer Altvorderer der Meinungsforschung, Paul Felix Lazarsfeld, emigrierte 1935 in die USA und entwickelte zeitgleich mit George Gallup die methodischen Grundlagen für empirische Sozialforschung. Die nach ihm benannte Paul Lazarsfeld Gesellschaft in Österreich führt aktuell das „High Frequency Monitoring“ durch.
Werner Beutelmeyer, Market-Chef und Präsident der Lazarsfeld-Gesellschaft, lässt hierbei den Puls der österreichischen Wählerschaft wöchentlich messen. Auf einer stabilen Basis von 1.000 Interviews, was bis zu 60.000 Befragungen im Jahr ergibt. Eine Methode, der Wolfgang Bachmayer von OGM durchaus skeptisch gegenübersteht. Letzterer bevorzugt größere zeitliche Abstände zwischen den Befragungen. Jedoch sind sich Beutelmeyer und Bachmayer im Disput mit dem Verband der Markt- und Meinungsforschungsinstitute Österreichs (VdMI) einig. Besagten Verband musste OGM verlassen, da dieses vermehrt auf „Online Only“ setzt. Der Verband schreibt für Sonntagsfragen jedoch eine Kombination aus Telefon- und Onlineinterviews vor. Jedenfalls kann OGM weiterhin auf eine hohe Trefferquote und die methodische Vorreiterrolle in Österreich verweisen. 1978 wurden erstmals Telefonbefragungen durchgeführt, 1985 Computerbefragungen, 2004 wurde ein „Online Panel“ begründet und 2010 ein „Social Media Monitoring“.
Skandale und Affären
Daneben führte die Affäre um die ehemalige ÖVP-Familienministerin Sophie Karmasin, welche den Gallup-Ableger in Österreich geleitet hatte, rund um den Vorwurf gekaufter Umfragen zu einer Berichterstattung über „Meinungsforscher und Meinungsmacher“, unter anderem durch Conrad Seidl im Standard. Tatsächlich erfolgt die „Dog Whistle Policy“ um einiges subtiler. Während des Migrationskrisenjahres 2015 konnten die Freiheitlichen zunächst bei der Landtagswahl in der Steiermark und später in Oberösterreich historische Zugewinne einfahren. Wobei diese in den Umfragen nicht derart deutlich prognostiziert wurden.
In Oberösterreich kam die ÖVP mit 36, die SPÖ mit 18, die FPÖ mit 30 und die Grünen mit zehn Prozent zum Liegen. Die Umfragen prognostizierten zwar freiheitliche Gewinne, aber bis auf OGM sah keines der Institute die FPÖ bei der 30er-Marke.
Derweil führte Michael Häupl seinen letzten Wahlkampf als Bürgermeister um Wien. Verluste gegenüber der FPÖ schienen unvermeidlich, somit setzte die SPÖ auf eine Kannibalisierung der Grünen im linken Wählerteich. Ähnlich wie Peter Kaiser (SPÖ) zweimal in Kärnten, was letztendlich zum Ausscheiden der Grünen aus dem Klagenfurter Landhaus führte. Um die Wähler zu motivieren, die SPÖ als Brandmauer gegen „rechts“ weiter zu unterstützen, musste die FPÖ in ihrem Duell um Wien „gestärkt“ werden. Die Umfragen vom 2. und 3. Oktober sahen die SPÖ zwischen 36 und 37,5 Prozent, die FPÖ zwischen 33,5 und 35 Prozent, also mit einem Unterschied von bis zu vier Prozent. Bei Market, Gallup und Unique Research lag die Differenz zwischen einem und zwei Prozent, bei OGM bei vier Prozent.
Die Dog Whistle Policy
Beim Wahlergebnis trennten SPÖ und Freiheitliche dann doch neun Prozent und SPÖ-Bürgermeister Michael Häupl konnte einigermaßen beruhigt in den Ruhestand treten und die Fackel an seinen Vornamensvetter Michael Ludwig weiterreichen. Und der ehemalige SPÖ-Politiker Josef Kalina übernahm mit Unique Research wiederum die Fackel von Ex-SPÖ-Innenminister Karl Blecha und des IFES. Die Freiheitlichen in Wien hatten das Nachsehen gegenüber den Landesgruppen in Oberösterreich und der Steiermark. Jedoch verhielt es sich sechs Jahre zuvor zwischen Oberösterreich und Vorarlberg umgekehrt.
Nach dem überraschend hohen Wahlerfolg der FPÖ am 20. September 2009 im Ländle mit 25 Prozent begannen die Umfrageinstitute die FPÖ in Oberösterreich hinaufzuschrauben. Von zunächst zwölf bis 13 Prozent auf 18 bis 20 Prozent. Lediglich OGM blieb bei einer moderaten Einschätzung von 14 Prozent. Letztendlich erlebte die ÖVP am 27. September 2009 mit 47 Prozent einen Triumph, die SPÖ mit 25 ein Desaster und die FPÖ mit 15 einen souveränen Erfolg.
Diese Form der „Dog Whistle Policy“ erlebte ihre Fortsetzung unter anderem bei den Landtagswahlen in Tirol im Jahre 2022. Nach dem Abtreten von Landeshauptmann Günther Platter wurde der ÖVP mit seinem Nachfolger Anton Mattle eine verheerende Niederlage vorhergesagt. Zur Untermauerung des drohenden Verlusts des Landeshauptmannsessels kam die ÖVP bei keinem Umfrageinstitut außer GMK über 30 Prozent hinaus. Am 25. September 2022 konnte man sich dann doch über 35 Prozent „freuen“, dem historisch schlechtesten Ergebnis im heiligen Land Tirol in der zweiten Republik.
Aktuell liegt die FPÖ schwer einholbar an der Spitze. Sowohl für die Europawahl am 9. Juni 2024 als auch für die Nationalratswahl, die sehr wahrscheinlich im Spätsommer oder Frühherbst stattfinden wird. Lediglich das Rittern um den zweiten Platz zwischen ÖVP und SPÖ scheint spannend. Ebenso die Frage, ob KPÖ und Bierpartei den Einzug in den Nationalrat schaffen.
Diese Lage bietet Möglichkeiten, im Zuge des „Dog Whistling“ doch noch eine Dreierspitze mit wechselseitigen Koalitionsvarianten zu erreichen. Und je mehr Stimmen für KPÖ und Bierpartei allenfalls „verloren“ gehen, desto „günstiger“ wird die Mandatsmehrheit für ÖVP und SPÖ.