Die Sehnsucht nach einem freien Amerika: Russlands gespaltene Seele
Die romantisierte Sicht auf Amerika bröckelt: Der russische Autor Ilia Ryvkin stellt in seinem Kommentar die Freiheitsrhetorik der politischen Realität gegenüber.
Es fühlt sich an wie eine Rückkehr in die Kindheit: das Gefühl, dass irgendwo ein freies Amerika existiert, das bewundert werden kann – ein Gedanke, der jahrzehntelang verschüttet war. Freiheit bedeutete damals offene Debatten, unzensierte Bücher, eine Presse, die sagte, was sie wollte. Die Vorstellung, dass ein Einzelner sich gegen das System stellen und trotzdem Erfolg haben könnte. Ein Amerika, in dem Meinungen aufeinanderprallten, anstatt im Gleichschritt marschieren zu müssen.
Das einstige Gefühl der sehnsüchtigen Freude über Amerika schien in der Vergangenheit zu verweilen. In den Jahren unter Jelzin mussten die Russen am eigenen Leib erfahren, wie treffend Henry Kissingers Warnung war: „Es ist gefährlich, Amerikas Feind zu sein – aber tödlich, sein Freund zu sein.“
Die Beziehung zwischen Bill Clinton und Boris Jelzin kann natürlich vorgeführt werden – es wäre eine rührende romantische Komödie mit einem traurigen Ende. In den 1990er-Jahren durchlief ihre Bromance alle möglichen Stadien. Sie begann, wie üblich, mit einer Phase, in der Blumen und Süßigkeiten verschenkt wurden. Jelzin bittet um 2,5 Milliarden Dollar für seinen Wahlkampf, Clinton verspricht ihm zu helfen, völlig uneigennützig, klar.
Die Bromance von Clinton und Jelzin
Danach beginnt der Flirt ganz unverhohlen: Bei jeder Verhandlung tauschen die Jungs Komplimente aus: „Boris, du bist gut in Form.“ „Der Anzug ist ein bisschen groß, oder? Hier fehlt noch etwas (zeigt auf seinen Bauch). Ich habe 30 Kilo abgenommen. Mein Gehirn arbeitet schnell und ich bin voller Energie, Bill. Ich werde alt, aber ich werde alles erfühlen, worüber wir gesprochen haben.“ „Du siehst großartig aus, Boris.“ „Ich mag es lieber, wenn Frauen mir das sagen, Bill.“ „Bei fast jedem Treffen beklagt Clinton, dass Jelzin abgenommen hat, und rät ihm, sich besser zu ernähren.“
Schließlich sagt Boris Nikolajewitsch, was alle längst geahnt haben: „Unsere Beziehung ist mehr als nur Freundschaft, Bill“.
Leider konnte das Märchen nicht ewig andauern. Nachdem die NATO 1999 Serbien bombardiert und die CIA offen islamistische Terroristen im Nordkaukasus bewaffnet und ausbildet, lässt sich Boris’ Freund das nicht gefallen und sagt Bill, dass es mit ihnen vorbei ist: „Natürlich werden wir weiterhin miteinander kommunizieren. Aber eine so schöne Freundschaft zwischen uns wird es nicht mehr geben. Das wird sie nie, Bill.“
Nach „Friend Bill“ übernahm der texanische Draufgänger George W. Bush Jr., dann kam der moralisierende Blender Obama. Trump versuchte, das Ruder herumzureißen, doch eine inszenierte Pandemie und eine gestohlene Wahl beendeten seine erste Amtszeit und spülten einen selbstfahrenden Greis ins Oval Office. Die amerikanische Gesellschaft glich zunehmend der späten Sowjetunion: Die Wirtschaft wurde ideologisch gegängelt (Breschnews Parole „Die Wirtschaft muss sparsam sein“ könnte direkt aus dem WEF-Handbuch stammen), die Meinungsfreiheit war nur noch ein Relikt, Zensur allgegenwärtig, Moralismus im Namen aller Unterdrückten dieser Welt – ein verordneter Opferkult als Herrschaftsinstrument. Während der Westen taumelte, stand Putin als Symbol pragmatischer Politik.
Trumps Rückkehr zur Realität
Was sich in den letzten Monaten abspielte, glich einem politischen Wunder. Auf verblüffend demokratische Weise wurde die Macht nicht an gesichtslose Bürokraten übergeben – wie es in Eurasien fast schon erwartet wird –, sondern an eine Mannschaft lebendiger, charismatischer Führungspersönlichkeiten: Trump, Vance, Musk, Whitkoff, J. F. Kennedy Jr., Tulsi Gabbard.
Plötzlich durften wieder einfache Wahrheiten ausgesprochen werden: „Tagsüber ist es hell, nachts ist es dunkel. Es gibt nur zwei Geschlechter. mRNA-Impfstoffe sind gefährlich. Öffentliche Mittel gehören den Bürgern und sollten ausschließlich in ihrem Interesse verwendet werden. Das Pentagon betrieb Biolabore in der Ukraine. Noworossija ist russisch, und die Bewohner haben dies per Referendum bestätigt.“
Während der Wahnsinn allgegenwärtig war, schlug diese Rückkehr zur Realität ein wie ein Sprengsatz. Zugleich der Kreml, einst ein Leuchtturm der Vernunft inmitten des Wahnsinns der Biden-Ära, wirkt unter den aktuellen Umständen etwas gedimmt.
Russland hält weiterhin an den 17 UN-Zielen der „nachhaltigen Entwicklung“ fest, bleibt im Pariser Abkommen und in der WHO. Eine Aufarbeitung der Coronamaßnahmen? Undenkbar! Die Beamten, die während der Pandemie die Bürgerrechte mit Füßen traten, sitzen noch immer fest im Sattel.
Russland im Zwielicht: Vernunft oder Stillstand?
Und die ethnisch-identitäre Kontroverse? Ein Land, in dem drei Viertel der Bevölkerung ethnische Russen sind und das ihr Nationalstaat sein könnte, wird offiziell als Vielvölkerstaat deklariert. Das wirkt ebenso kurios wie die geopolitische „Freundschaft“ mit den exotischsten Regimen der Welt. Hinzu kommt ein Staats-Patriotismus, der durch seine positive Bezugnahme auf die Bolschewiki – einst Agenten ausländischer Geheimdienste und Terroristen – eher verwirrt.
In den letzten Jahren wurde Russland zwar zur Bastion der Tradition erklärt, doch fragt man sich: Tradition wessen Volkes? Auf den neuen Banknoten sollten altrussische Kathedralen abgebildet sein – aber ohne Kreuze, um niemanden zu verärgern, dem das Kreuz ins Auge sticht. Wann hat sich Russland eigentlich zuletzt als orthodoxes oder gar als christliches Reich bezeichnet? Die politische Theologie der Russischen Föderation bezieht sich nicht einmal symbolisch auf die heilige Überlieferung – im Gegensatz zu den USA, wo der Präsident bei seinem Amtsantritt auf die Bibel schwört.
Während das Staatsfernsehen sich in seiner Reaktion auf Trump mit einem „Schauen wir mal“ zurückhält, ist das russischsprachige Internet von einer kaum zu zügelnden Begeisterung über die Ereignisse jenseits des Ozeans erfüllt. Man versteht jedoch: „America first“ bedeutet keinesfalls „Russia first“ oder gar „second“. „Es ist gefährlich, Amerikas Feind zu sein – aber tödlich, sein Freund zu sein“, wie Henry Kissingers Maxime in der Ukraine gerade erneut bewahrheitet wird.
Trump-Fieber im Netz
Selbst Dugin, der begeisterte Eurasier, kann sich der konservativen Wende hinter dem Atlantik nicht entziehen, die er mit der „konservativen Revolution“ in Verbindung bringt. J. D. Vance sei ein Denker in Machtpositionen, ein wahrer Intellektueller, der René Girard zitiert und – für Dugin von besonderer Bedeutung – einen Bart trägt. In der Glaubensrichtung, zu der Dugin zählt, gilt das Rasieren des Gesichts für Männer als ein schändlicher Akt der Verweiblichung.
Unter den amerikanischen Rechten stoßen die Ideen des russischen Konservativen offenbar auf Resonanz. Ein Berater von Peter Thiel, einem der Tech-Bros, die Trump bei seinem Aufstieg unterstützten, besuchte Dugin, um von ihm geopolitische Einsichten zu erhalten.
Kritische Stimmen äußern sich ebenfalls: „Die russische Medienlandschaft, Politologen und Politiker jubeln und rufen aus, wie großartig alles sei: Trump ist da. Allein das ist schon peinlich“, sagt der Schriftsteller Zakhar Prilepin. „Wir leben nicht in einem Vakuum, die Welt beobachtet uns! Nordkorea, Afrika, Lateinamerika, China sehen auf uns und denken sich: ‚Wow, ein Abkommen mit einem solch verlässlichen Partner.‘ Das ist in sich schon beschämend. Ihr seid Russen, habt etwas Würde. Reißt euch zusammen, presst die Lippen mit Wäscheklammern zusammen und haltet den Mund!“
Ist China wirklich Russlands Verbündeter? Dieses China, das Sanktionen ausnutzt, um russische Bodenschätze zu Niedrigstpreisen zu verschleudern und der größte Drohnenexporteur in die Ukraine ist? Und was ist mit der Dritten Welt, deren „Freundschaft“ meist nur darin besteht, sich mehr oder weniger wohlwollend von den Russen unterstützen zu lassen? Der Iran und Nordkorea sind zweifellos Verbündete, aber abgesehen von der heutigen Lage, seien wir mal ehrlich: Jeder Russe kann einen deutschen Schriftsteller nennen, den er schätzt, doch die jahrtausendealte persische Kultur wird für ihn immer etwas fremd bleiben. Und wenn der Russe von einem Hot Dog spricht, versteht er dasselbe wie der Amerikaner – aber nicht wie der Nordkoreaner.
Freundschaft mit Vorbehalt
Es zeigt sich, dass die gesamte Rhetorik über den „Internationalen Kampf gegen Faschismus und Kolonialismus“, die „multipolare Weltordnung“ und die „einzigartige Zivilisation“ nur noch eine leere Hülle ist, die das „unglaubliche Ausmaß an Groll und Eifersucht“ kaschiert, das Russland gegenüber dem Westen hegt – ähnlich einer verstoßenen Partnerin, so der Moskauer Influencer Dmitrij Olschanskij.
In einem Land mit einer vertikal ausgerichteten politischen Machtstruktur ist es von großer Bedeutung, wie der Präsident zu seinem amerikanischen Gegenüber steht. Dank Putins professioneller Zurückhaltung blieb dies lange im Dunkeln, doch kürzlich lüftete der Sondergesandte des Präsidenten, Steve Witkoff, den Schleier der Geheimhaltung: „Als auf den Präsidenten geschossen wurde, ging er [Putin] in seine örtliche Kirche, traf sich mit seinem Beichtvater und betete für den Präsidenten“, erklärte Witkoff in einem kürzlichen Interview mit Tucker Carlson. „Er hat für seinen Freund gebetet.“ Zudem berichtete Witkoff, dass Putin Trump ein Porträt von ihm, ein Meisterwerk der russischen Realistenschule, geschenkt habe. Diese Information wurde vom offiziellen Sprecher des Kreml bestätigt.
Die fatalen Risiken, Amerikas Freund zu sein, sind Putin nicht entgangen, da bin ich mir sicher. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen für Trump zu beten und ihn anzubeten. Was den einfachen Mann angeht, so könnte die russische Begeisterung für die Amerikaner eine unterschwellige Sehnsucht nach dem Abriss des eigenen Pappdorfs aus „Werten“ und „Internationalismus“ verbergen. Eine nationale Politik zugunsten des eigenen Volkes ist durchaus denkbar. Zar Alexander III. brachte es auf den Punkt: „Russland für die Russen und auf russische Weise“.