Freilich #32: Süchtig nach dem Kick

Kollektiver Todestrieb: Russland und die Ukraine im Sinkflug

Seit mehr als drei Jahren tobt der Krieg in der Ukraine. Der russische Autor Ilia Ryvkin sieht darin einen selbstzerstörerischen Prozess, der sowohl Russland als auch die Ukraine in einen gefährlichen Sog zieht.

Kommentar von
22.3.2025
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5 Minuten Lesezeit
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„Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ – eine Frage, die eigentlich keine Antwort braucht. Schließlich stammt sie aus einem Antikriegsgedicht von Jewgeni Jewtuschenko, das in der DDR mit großer Hingabe verbreitet wurde. Ein echter Ohrwurm des Friedens, oft dargeboten von namhaften Ensembles wie dem Alexandrow-Chor oder dem Berliner Oktoberklub. Würde ich diese Frage heute an die russische Öffentlichkeit richten, könnte die Antwort überraschend positiv ausfallen. Nicht, dass die schweigende Mehrheit – jene Masse, die sich im Schatten des ewigen Privatlebens verbirgt – darauf öffentlich reagieren würde. Und auch die Soldaten in den Schützengräben oder die Zivilisten in den umkämpften Gebieten hätten wohl wenig Zeit für Diskussionen.

Die mir bekannten Kämpfer im Donbass jedenfalls haben nach mehr als einem Jahrzehnt des Krieges genug. Ihre Sichtweise brachte einst der verstorbene Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin auf den Punkt: „Wir müssen aus dieser Drecksgeschichte herauskommen – und nicht in eine neue geraten.“ Ein Satz, der im russischsprachigen Internet jedoch weit nicht überall auf Zustimmung stößt. Auch die notorischen Propagandisten im russischen Staatsfernsehen meine ich nicht – jene schreienden Wendehälse, deren Haltung sich nahtlos mit der Aussage der RT-Direktorin Margarita Simonjan deckt: „Der Chef hat immer recht.“ Hier geht es längst nicht mehr um eine eigene Position, sondern nur noch um eine Funktion – strikt im Fahrwasser der von der Abteilung für Informationspolitik des Präsidialamtes vorgegebenen Richtlinien.

Putin: Propaganda und Pragmatismus

Auch nicht Wladimir Putin selbst – jene Person, die im Westen von Mainstreammedien und Fangemeinden gleichermaßen mit Extremen überzogen wird: mal als wahnsinniger Diktator, mal als messianischer Retter. Tatsächlich aber ist der russische Präsident weder das eine noch das andere. Wladimir Putin war und bleibt ein gemäßigter, berechenbarer Liberalkonservativer, den man eher mit einem Markus Söder vergleichen könnte – pragmatisch und ohne ideologische Verrücktheiten. Sein Credo lässt sich salopp auf einen Satz reduzieren: „Der Laden muss laufen.“ Eine nukleare Apokalypse? Sicher nicht Teil seines Plans.

Wer wirklich ein „rücksichtsloser Imperialist“ wäre, hätte 2014 nicht nur die Krim, sondern auch Charkow und Odessa mit einem einfachen Einmarsch und wenig Blutvergießen genommen – oder gleich Kiew. „Man hat uns damals betrogen“, klagt Putin heute. Ähnlich war es 2022, als er den Rückzug aus dem Kiewer Gebiet als „Geste des guten Willens“ erklärte, während London alles daran setzte, die Istanbuler Vereinbarungen zu torpedieren und den Krieg weiter eskalieren zu lassen. „Wieder hat man uns betrogen“, sagt Putin – und fragt sich wohl bis heute, wie das passieren konnte.

Eine umstrittene Figur, keine Frage. Doch eines kann man ihm nicht absprechen: In seiner Welt bedeutet ein Wort noch etwas. „Ein Mann – ein Wort“ – dieses Prinzip hat er als Jugendlicher in den Straßenraufereien von Leningrad gelernt, als dort noch geklärt wurde, wer Manns genug ist, sich an seine Versprechen zu halten. Doch wie sich gezeigt hat, ist unter den „ehrbaren Partnern“ des Westens oft nicht einmal mehr sicher, wer überhaupt ein Mann ist – oder ob nicht auch das Gender plötzlich zur Verhandlungsmasse wird.

Einigkeit wider Willen

Der Kriegskonsens, über den ich hier spreche, zieht sich quer durch die russischsprachige Influencer-Szene. Egal ob Z-Falke oder linksliberaler Intellektueller – bei allen sonstigen Unterschieden und gegenseitigen Feindseligkeiten – plötzlich herrscht Einigkeit. Selbst jene, die in einer Rowohlt-Anthologie als „Friedenstimmen aus Russland“ gefeiert wurden, zeigen sich auf einmal feindlich gegenüber der vom US-Präsidenten Trump angestrebten Waffenruhe. „Frieden ist Krieg“ – dieses orwellsche Prinzip ist für die selbsternannten „Gewissen der Nation“ kein Zynismus: Krieg gilt ihnen viel mehr als die konsequenteste Form des Friedens.

So schreibt Darja Serenko – jene russländische Aktivistin für die Weltbeglückung, die das ganze Elend noch mit schlechter Lyrik garniert – in ihrem „X“-Account, dass ein Waffenstillstand nur dazu führe, den Krieg in die Länge zu ziehen. Frieden verlängert also den Krieg, aber der Krieg selbst nicht? Eine Dialektik, die sich meinem Verstand entzieht – aber das ist schon in Ordnung, schließlich bin ich kein Linker. Da die Genossin zudem eine glühende Feministin ist, stünde ihrem Einsatz als Sturmfreiwillige an der ukrainischen Front eigentlich nichts im Wege. Doch seltsamerweise betreibt sie ihre Kriegshetze lieber aus sicherer Distanz – irgendwo in einem gemütlichen westlichen Land.

Die Dialektik der selbst ernannten Friedensstimmen

„Der Krieg darf nicht mit einer Absprache enden, nicht mit irgendeinem Münchner Abkommen, sondern mit … Putin hinter Gittern, vor einem Tribunal“, tönt Ilja Jaschin auf einer Berliner Kundgebung vor seiner Handvoll Anhänger. Der einstige Oppositionspolitiker, von westlichen Geldgebern hofiert, stilisiert sich zur Stimme des „anderen Russland“ – während er brav die Maximalforderungen der NATO nachplappert. Dass die russischsprachigen Stammgäste der Berliner Hipster-Cafés für ihren Traum vom Einmarsch in Moskau im weißen Abrams-Panzer notfalls bis zum letzten Ukrainer kämpfen lassen würden, überrascht kaum. Aber auch die Moskauer Cafés stehen denen in Berlin in nichts nach – und ihre Besucher zeigen keinerlei Kriegsmüdigkeit, die ich bei meinen Bekannten im Donbass beobachte.

„Jede Feuerpause ist für die Kiewer Terroristenclique nichts weiter als eine taktische Verschnaufpause, um Kräfte zu sammeln und nächsten Schlag vorbereiten.“ Solche Aussagen dominieren die Sozialen Netzwerke – dutzend-, ja hundertfach tauchen sie in Kommentarspalten und Kanälen auf. „Die Ukraine wird sich nicht freiwillig auflösen, also muss nachgeholfen werden: Neurussland, Kleinrussland, Karpatenruthenien – alles zurück unter die schützende Hand der Geschichte.“

Auch wenn ich diese Narrative nicht infrage stelle, lohnt sich ein Blick auf die Zahlen: Die Ukraine umfasst insgesamt 603.628 Quadratkilometer, wovon Russland derzeit etwa 120.726 Quadratkilometer besetzt hält. Der Rest – also rund 482.902 Quadratkilometer – steht weiterhin unter ukrainischer Kontrolle. Zwar hat Moskau in den letzten Monaten erhebliche Geländegewinne erzielt – allein im November 2024 wurden etwa 1.202 Quadratkilometer erobert, das entspricht im Schnitt 40 Quadratkilometern pro Tag. Doch selbst bei gleichbleibendem Tempo würde es noch über 12.000 Tage dauern, um das gesamte Territorium der Ukraine einzunehmen – das sind gut 33 Jahre.

Und doch wird beinahe täglich der „unmittelbare Zusammenbruch“ der ukrainischen Verteidigung prophezeit – so oft, dass man es kaum noch ernst nehmen kann.

Mortido im Osten: Ein Krieg gegen sich selbst

„Putin kann es wohl nicht lassen, sich von den ‚ehrenwerten westlichen Gentlemen‘ zum Narren machen zu lassen“, lese ich weiter. „Ein Frieden wäre das politische Aus für Selenskyj – und falls an den Vorwürfen gegen ihn nur ein Funken Wahrheit ist, könnte es für ihn noch weitaus ungemütlicher werden.“

Selenskyjs Wort ist wenig wert, wenn es um Friedensverträge geht – doch mit Trump am Verhandlungstisch könnte es diesmal anders laufen. Trump, ein Freund Russlands? Wohl kaum. Aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger im Oval Office ist ihm der Ukrainekrieg herzlich egal. Washington mag sich zwar freuen, wenn sich Russland und die EU gegenseitig schwächen, doch es setzt seine Ressourcen lieber in der Arktis, im Nahen oder Fernen Osten ein. Und der Kreml? Dort liest man zwischen den Zeilen vorsichtigen Optimismus heraus. Auch für Putin ist ein endloser Krieg keine Option. Eine totale Mobilmachung? Eine weitere Stärkung des Militärs? Weder außen- noch innenpolitisch sonderlich attraktiv – zu viele Risiken, zu viele Unwägbarkeiten. Seine Machtarchitektur beruht auf Stabilität, nicht auf der patriotischen Mobilisierung der Massen.

„Wir müssen aus dieser Geschichte so schnell wie möglich herauskommen – und nicht in eine neue geraten.“ Man muss es nicht neu formulieren – der verstorbene Wagner-Chef hat es bereits auf den Punkt gebracht.

Nein, ich bin kein Pazifist. Wenn sich im Nahen Osten zwei Völker mit hoher Geburtenrate um dasselbe Territorium bekriegen, ist das brutal, aber nachvollziehbar. Doch, hier? In der Ukraine kämpft eine gespaltene europäische Ethnie gegen sich selbst.

Russlands Bevölkerung schrumpft, die ukrainische bricht regelrecht zusammen – von 52 Millionen im Jahr 1991 auf heute 32 Millionen. Was bleibt, ist eine Kriegsbegeisterung, die an kollektiven Todestrieb erinnert. Mortido in Reinform.

Doch wie der Historiker und Ethnologe Lew Gumiljow treffend bemerkte: Kriege werden nicht von Ethnien geführt, sondern von Staaten. In diesem Sinne nährt sogar die autoritäre Natur der russischen Staatsführung meinen vorsichtigen Optimismus hinsichtlich eines möglichen Waffenstillstands.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Ilia Ryvkin

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

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