Publizist Dimitrios Kisoudis: „Deutschland muss Mitteleuropa-Initiative gründen“

Wahlsiege spülen konservative Parteien auf die Regierungsbänke. Die westliche Weltordnung wird in der Ukraine und im Nahen Osten in die Zange genommen. China treibt die Dedollarisierung und den Ausbau der BRICS voran. FREILICH hat mit dem Publizisten Dimitrios Kisoudis gesprochen, ob Deutschland diese Entwicklungen für eine Wende in Europa nutzen kann.

Interview von
18.12.2023
/
7 Minuten Lesezeit
Publizist Dimitrios Kisoudis: „Deutschland muss Mitteleuropa-Initiative gründen“

FREILICH: Darf man sich über Javier Mileis Sieg bei den Präsidentschaftswahlen in Argentinien freuen? Oder droht Rechten ein Katzenjammer wie nach Giorgia Melonis Wahl zur Ministerpräsidentin Italiens?

Dimitrios Kisoudis: Keine Vorschusslorbeeren bei falschen Wahlversprechen. Milei präsentiert sich als Anarchokapitalist. Anarchokapitalisten sind eigentlich gegen Fiat Money, also gegen ungedecktes Papiergeld, das unbegrenzte Geldmengenausweitung erlaubt. Das Dollar-Imperium gründet auf dem Fiat-Prinzip. Und trotzdem will Präsident Milei die Dollarisierung Argentiniens und weist die Einladung zur BRICS-Gruppe zurück. Dabei werden gedecktes Geld und Dedollarisierung unter den BRICS so lebhaft diskutiert wie sonst nirgends.

Milei wollte die Zentralbank sprengen, hat jetzt aber einen neuen Zentralbankchef ausgewählt und den früheren JP-Morgan-Banker und Zentralbankchef Luis Caputo zum Wirtschaftsminister ernannt. Und überhaupt: Was soll die Abschaffung der nationalen Zentralbank bringen, wenn man dann an der Fed hängt? Mein Eindruck: Die USA haben gemerkt, dass sie ihr politisches Spektrum scheinbar nach rechts erweitern müssen, um ihre Hegemonie vor Stimmungsumschwüngen abzusichern.

Wir dürfen uns nicht von plakativen Linkenbeschimpfungen täuschen lassen. Argentiniens Chance besteht darin, wie Brasilien ein Eigengewicht aufzubauen, das über Regierungswechsel hinweg trägt. Es ist ein Problem der populistischen Rechten, eher mit Annahmen und Erwartungen des Publikums zu operieren als mit Realitäten. Jetzt ist es höchste Zeit, diesen Populismus zu überwinden.

Was haben Sie gegen Rechtspopulismus?

Der Populismus stellt sich nicht die Frage: Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit Veränderung in unserem Sinne möglich ist? Das macht ihn anfällig für Selbstaffirmation und Manipulation. Die marxistische Linke hat sich immer gefragt: Was ist der materielle Unterbau des geistigen Überbaus? Und diese Frage ist gut, denn wir handeln nicht in einem rein ideellen Raum.

Die ökonomische Grundlage für „Wokeness“ bilden Fiat Money und Petrodollar. Fiat Money trennt Zeichenträger vom Bezeichneten, den Geldschein vom Goldwert. So bildet es die Grundlage für eine postmoderne Welt der Zeichen ohne feste Bedeutungen, wo eine „Frau“ keine Frau sein muss und ein „Italiener“ kein Italiener. Der Petrodollar stützt den Fiat-Dollar, indem er das überflüssige Geld als Energiereservewährung ins Ausland ableitet.


Die globale Vormachtstellung der USA bröckelt und Staaten wie China und Russland fordern die Weltmacht zunehmend heraus. Erleben wir die Entstehung einer „multipolaren“ Welt mit mehreren Weltmächten? In der FREILICH-Ausgabe werfen wir einen Blick auf die aktuellen Entwicklungen und klären, wie sich Europa positionieren sollte.

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Mit Metapolitik allein kann man keine Kulturrevolution machen, solange die wirtschaftlichen Bedingungen gleich bleiben. Nun besteht aber die Chance, dass sich diese Bedingungen ändern. Die BRICS-Staaten handeln Energieträger immer häufiger in eigenen Währungen. China kauft iranisches Öl schon lange in Yuan und will nun auch Öl von Saudi-Arabien in seiner eigenen Währung kaufen. Saudi-Arabien will als größter Erdölexporteur gemeinsam mit dem alten Rivalen Iran den BRICS beitreten.

Die kommenden Umwälzungen könnten epochal sein. Noch größer als die Probleme, die wir haben. Wer jetzt die Chance verpasst, wird keine zweite bekommen. Orientierung finden wir nicht bei ausgefallenen Frisuren.

Angenommen Petroyuan oder Petrorubel lösen den Petrodollar ab. Würde dann das Problem einer ungedeckten Fiatwährung nicht weiter bestehen?

Viele stellen sich Multipolarität vor wie Unipolarität mit China statt USA als führender Macht. Der Dollar würde demnach durch den Yuan als Machtzentrum mehr schlecht als recht ersetzt werden. Ich denke, das politische Konzept der BRICS funktioniert anders.

Der Chefideologe der Neuen Seidenstraße Wang Yiwei erklärt Konnektivität zum obersten Prinzip. China strukturiert den Kontinent mit Schienen, Straßen, Pipelines – vielleicht auch mit Datenautobahnen. Auf höherer Ebene fasst die Neue Seidenstraße diese Strukturen zur Superstruktur zusammen. Nicht Währungs-, sondern Strukturpolitik steht im Zentrum eurasischer Macht. Ein echter Paradigmenwechsel.

Das klingt nach einem weiten Weg zur Wende. Sollte man nicht lieber versuchen, mit dem Schwung der Wahlerfolge eine schnelle Änderung herbeizuführen? Sofortige Remigration, um die Identität der europäischen Länder zu schützen?

Identität ist wichtig als Ausgangspunkt und als Ziel. Um die Identität der europäischen Völker zu wahren, muss man aber das Primat der Außenpolitik befolgen. Man kann die Innenpolitik nicht durch Regierungsübernahme um 180 Grad umkehren. Auch gemeinsam mit einem weitgehend machtlosen Vorfeld kann man nicht einfach eine Kulturrevolution vollziehen. Dieses magische Denken grenzt bisweilen an Naivität.

Wir sehen in Italien, was passiert, wenn man die Innenpolitik zu verändern verspricht, sich aber mit den falschen Kapitalfraktionen einlässt. Giorgia Meloni muss einsehen, dass ihre Mittelmeer-Blockade gegen Migration nicht funktioniert. Sie muss sich sogar aktiv zur Migration bekennen und sie als Nutzen für die eigene Nation verkaufen. Dabei wirkt sie keineswegs glücklich, sondern nervös.

In den vergangenen Jahren ist klar geworden, dass sich die großen Umbrüche in der Geopolitik vollziehen. Struktur ist wichtiger als Kommunikation. Deshalb muss Populismus durch echte Geostrategie ersetzt werden.

Was verstehen Sie darunter?

Wollen wir unser Land im Inneren verändern, müssen wir zuerst die außenpolitische Einbettung korrigieren. Diese Einsicht klingt zunächst frustrierend, weil sie einen größeren Aufwand voraussetzt, als nur Kommunikation und Marketing zu optimieren. Sie zu beherzigen bedeutet aber, sich fünf bis zehn vergeudete Jahre zu ersparen. Genau das droht nämlich, wenn man die falsche Option wählt.

Die Wahrheit ist: Europa wurde zum Schmelztiegel, weil das dem Nomos der US-Vorherrschaft entspricht. Die Verschmelzung von Europa und Afrika wird durch die Brille von Hollywood, Basketball und Rapmusik wahrgenommen. Auch die Asylzuwanderung geschieht in diesem Horizont, der nach den Weltkriegen aufgespannt worden ist.

Wir müssen begreifen: Europa steht nicht vor der Wahl USA oder China. Es hat nicht die Alternative Wolkenkratzer oder Plattenbau, sondern: Afrika oder Asien?

Sie haben dieses Jahr ein Buch mit dem Titel Mitteleuropa und Multipolarität veröffentlicht. Welche Rolle spielt Mitteleuropa in der geopolitischen Strategie?

Mit Mitteleuropa können wir Anschluss an die Multipolarität finden und gleichzeitig an die deutsche Geschichte anknüpfen. Mitteleuropa ist nämlich die deutsche Europaidee. Nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reichs suchte Deutschland lange nach seiner nationalen Form, nach seiner staatlichen Identität.

Von Friedrich List bis Friedrich Naumann stießen deutsche Denker auf der Suche nach der Nation immer auf Mitteleuropa. Mitteleuropa war zugleich ökonomischer Großraum und Kern zu einer europäischen Kontinentalallianz gegen die angelsächsische Seeherrschaft. Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg war diese Idee erst einmal begraben.

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David Engels hat in Ausgabe 3/2022 des liberalkonservativen Magazins Cato vorgeschlagen, dass ein von Polen dominiertes Intermarium ein Gegengewicht zu Russland im Osten und zum „deutsch-französischen Tandem“ im Westen bilden könne. Kann uns das Engelsche Intermarium nicht besser vor Russland schützen als ein von Deutschland geführtes Mitteleuropa?

Ich glaube nicht, dass wir einen Schutzblock gegen Russland brauchen. Im Gegenteil, wir müssen uns vor Bestrebungen schützen, einen Block zwischen unseren Ländern zu errichten. Die polnische Drei-Meere-Initiative hat genau diesen Zweck, einen Keil in den Kontinent zu treiben und den freien Handel zwischen Russland und der EU zu verhindern. Das wird in seiner ganzen Tragweite auf der Rechten leider nicht breit wahrgenommen.

Jetzt ist es an der Zeit, dass Deutschland eine Mitteleuropa-Initiative gründet. So können wir von Westen her die Struktur ergänzen, die sich an der Neuen Seidenstraße bereits herausbildet. Deutschland muss eine Brücke nach Eurasien bauen, das heißt konkret: Infrastrukturprojekte mit den Staaten der Zone zu Russland ins Leben rufen, um den Keil aus dem Kontinent zu entfernen.

Auf Dauer kommt das auch Polen zugute. Unter der neuen alten Tusk-Regierung werden die Polen sehen, dass eine linksliberale Agenda mit der Westbindung noch besser harmoniert als der Schaufensterpatriotismus der PiS-Regierung.

Martin Sellner hat das Konzept eines Kontinentalblocks als wenig zielführend bezeichnet, da die kulturellen Unterschiede keine Verschmelzung zu einem Imperium ermöglichen würden. Dies könne nur ein Paneuropa leisten. Sehen Sie hierin ein Problem?

Dieses Paneuropa könnte als Zivilisation einen eigenen Pol in der multipolaren Welt bilden. Dazu müssen sich die Nationen positiv auf die europäische Identität beziehen. Für die Kontinentalpolitik im größeren Maßstab braucht es keine zivilisatorische Identität. Das ist gerade die Stärke dieser Idee. Kulturelle Differenz ist erlaubt. Das ermöglicht den Völkern, nach ihrer Identität zu leben. Und selbst dann müssen wir uns fragen, ob die Ähnlichkeit im Kontinentalblock nicht größer ist als im Westblock, den angeblich universale Werte zusammenhalten.

Die NATO beschwört in ihrem strategischen Konzept vom vergangenen Jahr einen Konflikt zwischen westlichen Werten und Autoritarismus. Das traditionelle Deutschland würde nach dieser Logik eher zum Osten gehören als zum Westen – sowohl in seiner preußischen als auch in seiner österreichischen Gestalt. Für Deutsche ist daher eher attraktiv, dass die Strukturpolitik der BRICS-Staaten zivilisatorische Differenzen erlaubt und überbrückt. Der eigene Weg wird plötzlich wieder gangbar. Jetzt braucht es Mut zur Macht.

Herr Kisoudis, vielen Dank für das Gespräch!


Zur Person:

Dimitrios Kisoudis, geboren 1981, ist Publizist und parlamentarischer Berater. Neben seiner beruflichen Tätigkeit erforscht er den deutschen Sonderweg.

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