Deshalb ist der Fachkräftemangel eine Legende

Die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt bleibt angespannt, immer wieder ist vom sogenannten Fachkräftemangel die Rede. Dass die demografische Schieflage dafür verantwortlich ist, glaubt Bruno Wolters nicht. Für ihn ist das Problem hausgemacht, wie er in seinem Kommentar für FREILICH erklärt.

Kommentar von
1.9.2023
/
6 Minuten Lesezeit
Deshalb ist der Fachkräftemangel eine Legende

Handwerksbetriebe suchen händeringend nach Mitarbeitern

© IMAGO / Fotostand

Fast täglich berichten die Medien über den angeblich immer größer werdenden Fachkräftemangel – Handwerker finden keinen Nachwuchs und große Unternehmen keine Fachkräfte. Die Folge sei immer ein wirtschaftliches Risiko, weil Ausbildungs- und Arbeitsplätze unbesetzt bleiben. Diese Umstände dienen der Politik oft als Ausrede und Rechtfertigung für alles: Niedrige Renten, Arbeiten bis 70, Rezession, hohe Zuwanderung, um nur einige zu nennen. Doch wie dramatisch ist der Fachkräftemangel wirklich? Und ist er wirklich nur auf die demografische Schieflage zurückzuführen?

Zunächst aber zu den Grundlagen: Fachkräftemangel bezeichnet den Knappheitszustand einer Volkswirtschaft, in dem eine nennenswerte Zahl von Arbeitsplätzen für Arbeitskräfte bestimmter Qualifikationen nicht besetzt werden kann, weil der Arbeitsmarkt keine entsprechend qualifizierten Arbeitskräfte zur Verfügung stellt. Vor allem die Demografie ist hier ein Knackpunkt: Deutschland ist ein Land ohne Jugend, es gibt zu wenig Nachwuchs für die vielen offenen Stellen – so zumindest die Behauptung. „Experten“ wollen den Nachwuchsmangel durch Zuwanderung ausgleichen. Aber bedeutet wenig Nachwuchs automatisch Fachkräftemangel und wirtschaftliche Probleme?

Ist die Demografie wirklich Schuld?

Ein kleines Beispiel zeigt, dass es nicht so einfach ist: Nach 1945 waren Männer im Alter von 20 bis 50 Jahren buchstäblich Mangelware, weil viele im Krieg gefallen oder vermisst waren. Männliche deutsche Arbeitskräfte waren also rar. Alterspyramiden veranschaulichen diese damalige Situation sehr gut – es gab eine Delle in der Mitte, im Gegensatz zu heute, wo man von einem Pilzmodell spricht, weil sich die Darstellung aufgrund der demografischen Situation nach oben ausweitet. Trotzdem sprechen wir vom Wirtschaftswunder und den Goldenen 50ern – trotz der demografischen Schieflage. Wie passt das zusammen? Das Stichwort lautet Produktivität.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass: Die erwerbstätige Bevölkerung schrumpfte, die zu versorgende (im Median ältere) Bevölkerung wuchs, die Menschen arbeiteten immer weniger Stunden, aber der Wohlstand stieg, weil die Menschen zum Beispiel durch technische Entwicklungen ihre Arbeitskraft immer effizienter einsetzten. So konnten im Bergbau weniger Bergleute mehr Kohle fördern, weil der Einsatz von Maschinen und besseren Werkzeugen die Produktivität steigerte. Ähnliches gilt für die Stahlproduktion, den Automobilbau, das Baugewerbe und das Handwerk. Der Einzelne wurde produktiver. Was vor dem Krieg zwei Menschen in einer Stunde schafften, bewältigte nun ein Mensch allein.

Keine Frage des Nachwuchses, sondern des Willens

Alle Horrorszenarien der demografischen Schieflage werden auch in Zukunft nur dann eintreten, wenn man davon ausgeht, dass es keine Produktivitätssteigerungen und keinen technologischen Fortschritt mehr geben wird. Denn der technische Fortschritt setzt Arbeitskräfte für andere Tätigkeiten frei. Der Ruf nach Zuwanderung zur Entlastung des Arbeitsmarktes ist daher stets kritisch zu betrachten. Vielmehr geht es darum, billige Arbeitskräfte zu finden, die im prekären Bereich viel Arbeit für wenig Geld leisten.

Zurück zum Thema Fachkräftemangel. Dass der Fachkräftemangel keine Frage des Nachwuchses ist, sondern eine Frage der Ausbildung – und damit des Geldes – zeigt das Beispiel der Ärzte. In Deutschland fehlen Ärzte, vor allem auf dem Land schließen Praxen. Insgesamt kümmern sich fast 30.000 Ärzte aus dem Ausland um unsere Gesundheit. Aber warum eigentlich? Warum brauchen wir ausländische Ärzte? Schließlich sind es auch Ärzte, die in ihren Heimatländern fehlen – aber lassen wir das.

Anders gefragt: Fehlen in Deutschland einfach die jungen Menschen, die sich später einmal um unsere Gesundheit kümmern wollen? Nein, im Gegenteil: Es gibt viel mehr Bewerber und Interessenten als Studienplätze, denn auf knapp 10.000 Medizinstudienplätze kommen rund eine Million Bewerbungen. Es gibt also genügend potenzielle Ärztinnen und Ärzte – man will und kann sie nur nicht ausbilden, denn die Ausbildung von Medizinern ist nicht gerade billig. Die Humanmedizin und die Gesundheitswissenschaften nehmen laut Statistischem Bundesamt den größten Anteil an den Ausgaben für Studierende an deutschen Hochschulen ein.

Aber für ein „reiches Land“ sollte das doch kein Problem sein, oder? Nicht für unsere Politik. Es ist viel praktischer, ausgebildete Ärzte aus dem Ausland zu holen. Das ist nur ein Beispiel – es zeigt aber das Problem.

Gewollt, aber kein Sachzwang

Der sogenannte Fachkräftemangel ist eher menschengemacht als wirklich ein Sachzwang der Demografie oder der nachwachsenden Generation, die „keinen Bock“ hätte. Zumal in der Marktlogik ein Fachkräftemangel durch höhere Löhne schnell ausgeglichen werden könnte – oder? So einfach ist es nicht. Schaut man sich an, was Unternehmen tun, um attraktiver für Bewerber zu werden und Mitarbeiter zu binden, kann man sich nur an den Kopf fassen. Laut einer Statistik sind Maßnahmen wie „kostenlose Getränke“ mit 92 Prozent sehr beliebt. Mehr Gehalt oder sinnvolle Extras wie Altersvorsorge oder Kinderbetreuung? Das sucht man vergebens. Nur neun beziehungsweise acht Prozent wollen dies anbieten.

Ein weiteres Beispiel ist der Fachkräftemangel bei Ingenieuren. Für den Ingenieursverband liegt ein Fachkräftemangel vor, wenn sich auf eine offene Stelle weniger als fünf Interessenten bewerben. Aber: Immer mehr Menschen studieren Ingenieurwissenschaften – von rund 40.000 Studenten im Jahr 1975 auf knapp 1,2 Millionen im Jahr 2011. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ingenieure steigt dagegen kaum – sie stagniert bei 150.000, bei den Elektroingenieuren ist sie sogar rückläufig. Die ausgebildeten Fachkräfte kommen also nicht auf dem Arbeitsmarkt an. Auch die Altersstruktur der Ingenieure deutet nicht auf einen Nachwuchsmangel hin.

Die Politik verursacht den Fachkräftemangel selbst

Ein gewisses Muster ist also erkennbar. Der „Fachkräftemangel“ ist nicht auf die Demografie zurückzuführen, sondern auf eine verfehlte Bildungs- und Beschäftigungspolitik – die Politik macht es sich leicht, indem sie ausländische Fachkräfte anwirbt, die dann oft auch noch die Löhne niedrig halten, während die Jugendarbeitslosigkeit steigt und Interessenten nicht ihren Berufswunsch nachgehen können. Zudem landen viele Migranten, die ja eigentlich den Fachkräftemangel beheben sollen, im prekären Sektor. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es in Deutschland im Jahr 2021 unter den 25- bis 34-Jährigen 1,5 Millionen Menschen ohne Berufsabschluss gab. Das sind also 14 Prozent der entsprechenden Geburtsjahrgänge, wobei die Tendenz steigt. Die Ausbildung von neuen Ärzten und anderen Fachkräften ist aber teuer – und somit immer ein Problem für die Politik.

Natürlich muss man auch erwähnen, dass Deutschland durch die miserable Politik immer unattraktiver wird und vor allem kleine Unternehmen und Handwerker durch den aufgeblähten Wohlfahrtsstaat kein Geld mehr für die Ausbildung haben. Viele können die finanziellen Belastungen aufgrund der hohen Steuern nicht mehr tragen, zudem häufen sich die Klagen über die mangelnde Qualifikation der Schulabgänger. Die Logik hinter dem selbstverursachten Fachkräftemangel bleibt jedoch bestehen.

Das Geld wird falsch verteilt

Es ist aber nicht so, dass das Geld für eine bessere und breite Ausbildung fehlt. Es ist theoretisch da, wird aber falsch ausgegeben. Eine Milliarde gegen Rechts, 22 Milliarden für die Ukraine, mehr als 20 Milliarden pro Jahr für Flüchtlinge. Zudem herrscht für die Politik ein Paradies: Es gibt Rekordeinnahmen des Staates. Man muss sich nur vorstellen, was möglich wäre, wenn das Geld an den richtigen Stellen eingesetzt würde, denn nur ein Bruchteil der Milliarden würde ausreichen. Mehr Geld für die Universitäten, um mehr Ärzte auszubilden. Steuererleichterungen für Unternehmen, die ausbilden – die Ideen sind vielfältig. Ein Vorschlag: Der Investitionsstau bei maroden Schulen beträgt 45 Milliarden Euro.

Über die Lüge, dass uns die Zuwanderung ab 2015 Fachkräfte gebracht hätte, brauchen wir nicht zu reden. In Österreich können sieben von zehn Zuwanderern nicht richtig lesen und schreiben. Wir brauchen daher einen Politikwechsel. Mit der Zuwanderung wird versucht, das Niedriglohnland Deutschland, denn Deutschland hat im Vergleich zu seinen Nachbarn einen großen prekären Sektor, zu stabilisieren und gleichzeitig echte Fachkräfte aus dem Ausland abzuwerben.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Bruno Wolters

Bruno Wolters wurde 1994 in Deutschland geboren und studierte Philosophie und Geschichte in Norddeutschland. Seit 2022 ist Wolters Redakteur bei Freilich. Seine Interessengebiete sind Ideengeschichte und politische Philosophie.

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