Reconquête-Funktionär: „Es ist enttäuschend, dass Marion Maréchal die Partei verlassen hat“ (1)

Erst 2022 wurde die Partei Reconquête von Eric Zemmour gegründet. Nach dem Erfolg bei den diesjährigen Europawahlen konnte die Partei fünf neu gewählte Europaabgeordnete verkünden. Im ersten Teil des Gesprächs mit FREILICH spricht ein Funktionär der Partei über seine Beweggründe, in der Partei aktiv zu werden, die aktuellen Entwicklungen in Deutschland und die Situation der Partei nach den Wahlen.

Interview von
30.6.2024
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6 Minuten Lesezeit
Reconquête-Funktionär: „Es ist enttäuschend, dass Marion Maréchal die Partei verlassen hat“ (1)
Zemmour hat Maréchal und drei weitere EU-Abgeordnete aus seiner Partei ausgeschlossen.© IMAGO / ZUMA Wire

FREILICH: Nico, bitte erläutern Sie Ihre Rolle, die Sie in Deutschland und Mitteleuropa für die französische Partei Reconquête (R!) inne haben. Was sind Ihre Aufgaben?

Nico: Ich bin für den 7. Wahlkreis der „im Ausland lebenden französischen Wähler“ zuständig, der Deutschland, Polen, Bulgarien, Rumänien, Österreich und einen Teil des Balkans umfasst. Besonders verantwortlich bin ich für Deutschland und Österreich, da ich Deutsch spreche und in Deutschland lebe.

In dieser Funktion sorge ich dafür, dass alles reibungslos läuft: Ich organisiere Veranstaltungen, bin in wichtigen Wahlkampfzeiten präsent und stelle vor allem Verbindungen zwischen den Mitgliedern her. All diese Aufgaben erledige ich ehrenamtlich und unbezahlt.

Erzählen Sie uns etwas über Ihren Hintergrund – was hat Sie zuerst an der Reconquête gereizt?

Ich war schon immer liberal in meiner Arbeitsweise und meinem Verhalten, aber mein Interesse an der Reconquête war teilweise demografisch bedingt, wie bei vielen anderen auch. Ich gehöre zu einer Generation, die Éric Zemmour (den Gründer der Partei) im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren im Fernsehen gesehen hat, bevor Zemmour in die Politik ging. Da war jemand, der seine wahre Meinung nicht verbarg oder verheimlichte – jemand mit Gewissenhaftigkeit, Freigeist und Scharfsinn.

Ich glaube, das hat viele Menschen berührt. Seine Bestseller spiegeln den Erfolg der Person wider, die er verkörperte und die viele Franzosen ansprach und immer noch anspricht. Wenn man älter wird, wird man sich seiner Heimat und Herkunft bewusster, man erkennt, was einen geprägt hat: die Eltern, das Funktionieren der französischen Familie. Man versteht, dass der Kirchturm im Dorf wichtig ist. Der Grund, warum wir zu Mittag essen, ist, dass in Frankreich, einem Land mit einer reichen landwirtschaftlichen Geschichte, die Arbeit ruhte, wenn die Sonne am höchsten stand.

Frankreich ist durch eine Vielzahl von Epochen geprägt, die das Individuum, den Mann und die Frau sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Verbindung zur Kultur, zur Sprache und zum Savoir-vivre, manchmal sogar zu einem einfachen Gesichtsausdruck, reflektieren. All dies führt dazu, dass man mit dreißig beginnt zu überlegen, dass das eigene kleine Ich vielleicht ein wenig mittelmäßig und egozentrisch ist. Dieses Ego sucht nach einer Verbindung und strebt danach, sich dem zu nähern, was es geprägt hat: den Eltern, dem Land, der Kultur, der Spiritualität. Mit dreißig ist man nicht mehr zwanzig. Man erkennt bestimmte Dinge und beschließt, sich auf das große Abenteuer Frankreich einzulassen.

Sie leben seit geraumer Zeit in Deutschland. Wie hat sich das auf Ihr Verständnis der politischen Situation in Europa ausgewirkt?

Ich habe schon immer eine Vorliebe für deutsche Kultur gehabt und bin auch oft in meiner Jugend nach Deutschland gereist. Aber nicht nur nach Deutschland: Als Fotojournalist war ich häufig in Russland und der Ukraine unterwegs. Reisen können einem einen starken Realitätsschock versetzen. Denn: In jungen Jahren hat man bestimmte Vorurteile. Doch durch das Reisen lernt man eine Realität kennen, die man sich vorher nicht hätte vorstellen können. Man entdeckt, dass es in Deutschland ebenfalls Wokeismus gibt. Man erkennt, dass Deutschland wirklich mit seiner Geschichte ringt.

Was das Reisen vor allem für mich getan hat, ist jedoch dies: Es hat meine Verbundenheit zu Europa gefestigt. Ich fühle mich als Europäer, nicht im rechtlichen Sinne der europäischen Verfassung, sondern im literarischen, philosophischen und territorialen Sinne. Wenn ich nach Moskau reise, habe ich das Gefühl, mit Menschen wie mir zu sprechen. Ich spüre, dass wir denselben Gott anbeten und dass wir ähnliche kulinarische Vorlieben haben, obwohl ich zugeben muss – und entschuldigen Sie diese kleine Unhöflichkeit – dass französisches Essen das Beste der Welt ist. Ein bekannter Anwalt sagte einmal: „Ich neige dazu, der Justiz meines Landes zu misstrauen und der Küche meines Landes zu vertrauen.“ Dieses Zitat hat für mich immer noch große Bedeutung.

Sehen Sie Deutschland und seine Gesellschaft als woke an?

Man könnte denken, dass Wokeismus in Deutschland nur eine vorübergehende Modeerscheinung ist, ein Trend. Aber die Realität ist komplexer: Vielleicht aus der protestantischen Tradition heraus haben die Deutschen immer das Bestreben, besser zu sein als man selbst. Ich wünsche es ihnen nicht, aber Wokeismus könnte aufgrund dieser mentalen Konstruktion tatsächlich Fuß fassen. Es gibt eine Idee des Protestantismus, in dem das Individuum sich ständig weiterentwickelt, fast bis hin zu einer leicht wahnhaften Fixierung auf Vergangenes. Dies sahen wir im Nationalsozialismus, wenn auch zu ganz anderen Zeiten.

Wokeismus hat sich in ein gänzlich verändertes Deutschland eingeschlichen im Vergleich zur Zeit des Nationalsozialismus, daher ist der Vergleich übertrieben. Doch etwas Beunruhigendes mag darin liegen, wie die Deutschen die NSDAP akzeptierten und später den Sozialismus unter russischer Besatzung akzeptierten. Warum also nicht, viele Jahre später, sich in etwas zu vertiefen, wobei sie dieses Mal das Gefühl haben, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen? Denn das ist auch die deutsche Tragödie: Sie wissen um ihre Großmachtstellung, haben aber auch Angst vor sich selbst, da sie zu den schlimmsten und besten Taten fähig sind. Die Alphabetisierung im Rahmen von Luthers Protestantismus war eine bemerkenswerte Errungenschaft und bildete die Grundlage für die europäische Alphabetisierung. Dann kam die Industrialisierung.

Die Deutschen zeigen eine bemerkenswerte Fähigkeit, Menschen zu führen und sich mit Ideologien auseinanderzusetzen, die mal schrecklich und mal bemerkenswert sind. Vielleicht wird Deutschland den Wokeismus dauerhaft übernehmen. Oder vielleicht wird Deutschland im Gegenteil das Land in Europa sein, das rechtzeitig erkennen kann: „Wir steuern auf den Abgrund zu, so wie wir es schon einmal getan haben“, und den Kurs korrigiert.

Wie sehen Sie Deutschland und seine Gesellschaft im Hinblick auf den Wokeismus?

Nachdem ich viele R!-Mitglieder und Aktivisten im Ausland getroffen habe, habe ich beobachtet, dass es in Mitteleuropa eine vielfältige Gruppe von Menschen gibt. Es ist ziemlich gemischt. Unter ihnen sind oft junge Unternehmer und selbständig Berufstätige wie Rechtsanwälte und vor allem Architekten, die bi-national verheiratet sind. Es gibt auch viele Rentner, die eine Karriere sowohl in Frankreich als auch in Deutschland hatten.

Weniger vertreten sind ganz junge Leute. Viele junge Franzosen, die nach Deutschland kommen, sind oft noch in der Schule und tendieren im Allgemeinen stark nach links. Die aus dem Ausland stammenden jungen Menschen, die ich bei der R! sehe, studieren oft Geschichte oder absolvieren Aufbaustudiengänge in technischen Fächern wie Ingenieurwesen.

Wie haben Sie die Ereignisse um Éric Zemmour und Marion Maréchal erlebt?

Natürlich waren wir alle enttäuscht und schockiert. Schon länger gab es Gerüchte über Spannungen zwischen Marion Maréchal und Éric Zemmour. Diese Gerüchte kamen zwar aus dem Buschfunk, aber für uns Aktivisten war es schwer, ein klares Bild von der Situation zu bekommen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen vertieften sich, besonders angesichts der Umfragen, die den Rassemblement National klar in Führung sahen. Wir dachten, dass Éric Zemmour und Marion Maréchal ein starkes politisches Duo waren, das für Kontinuität bei der Reconquête sorgen würde. Leider war das nicht der Fall, und wir sind alle enttäuscht. Marion Maréchal war eine herausragende Figur bei der Reconquête.

Während der zwei Jahre, in denen die Reconquête existierte, dachten wir, dass zwischen ihnen eine große Loyalität und Zuneigung bestand. Es war ein Gefühl, im gleichen Team zu sein. Es ist bitter und enttäuschend, dass Marion Maréchal, zusammen mit anderen R!-Mitgliedern wie Nicolas Bay und Guillaume Pelletier, Reconquête verlassen hat. Diese Personen waren die Gesichter von Reconquête, und wir haben sie sehr geschätzt. Diese Entwicklung war enttäuschend, vor allem da sie zum Rassemblement National wechselten, obwohl die Reconquête ihre Ideen voll und ganz vertrat. Aber so ist das Ergebnis. Bei den kommenden Parlamentswahlen müssen wir das „nationale Lager" verteidigen – und das wird offensichtlich vom Rassemblement National repräsentiert, wie es die Umfragen zeigen.

Während des Europawahlkampfes gab es in der Presse Gerüchte über große Meinungsverschiedenheiten zwischen Marion Maréchal und Éric Zemmour über die Strategie gegenüber dem Rassemblement National. Zemmour bevorzugte eine aggressivere Vorgehensweise, während Marion es vorzog, über andere Themen zu sprechen. Glauben Sie, dass dies einer der Hauptgründe für die wachsenden Spannungen zwischen ihnen war?

Ja, das war sicherlich ein wesentlicher Teil der Meinungsverschiedenheiten. Éric Zemmour hat möglicherweise einige Fehler gemacht, indem er weiterhin aggressiv gegenüber dem Rassemblement National auftrat, um deren Wähler zu gewinnen. Dies mag gerechtfertigt sein, doch nach dem Wahlkampf war er bereit, Verhandlungen mit dem Rassemblement National über Marion Maréchal zu führen. Das Rassemblement National hat jedoch kein Angebot angenommen.

Es stimmt, dass Éric Zemmour während des Präsidentschaftswahlkampfes 2021/2022 sehr kritisch gegenüber dem Rassemblement National war. Das hat sicherlich zu Spannungen geführt, sowohl von Seiten des Rassemblement National als auch von Éric Zemmour selbst. Das Rassemblement National zeigt Überlegenheit und möglicherweise Verachtung gegenüber kleineren Parteien. Éric Zemmour hat argumentiert, dass die stärkere Partei auf die schwächere zugehen muss, aber wir sehen, wie die Dinge sich entwickelt haben.

Ich glaube, die Reconquête hätte nicht die politische Landschaft so stark beeinflusst, wie es derzeit der Fall ist, wenn sie 2021 nicht aktiv geworden wären. Die Reconquête hat das politische Spiel verändert und dazu beigetragen, dass der Rassemblement National nicht mehr einfach als rechtsextrem abgestempelt werden kann. Das hat dem Rassemblement National sehr geholfen.

Der zweite Teil des Interviews erscheint in den nächsten Tagen.


Zur Person:

Nico D. ist ein französischer Fotojournalist und Reconquête-Funktionär. Er ist für die Angelegenheiten der Partei im mitteleuropäischen Ausland zuständig.

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