Freibrief: Die neue Toleranz – wer widerspricht, fliegt
Die Grenze des Sagbaren verschiebt sich rasant – nicht durch Gesetze, sondern durch eine neue politische Moral, die Kritik als Gefahr betrachtet. So wird schnell jeder zum Feind, der sich nicht dem Deutungsanspruch der Meinungshüter beugt, meint Heimo Lepuschitz.
Bei einer Demonstration in Berlin während der Coronapandemie wurde ein Plakat mit der Aufschrift „Wir werden gezwungen, einen Maulkorb zu tragen“ gezeigt.
© IMAGO / Müller-StauffenbergEs war einmal eine Demokratie, die stolz darauf war, jede Meinung auszuhalten – selbst jene, die unbequem war. Die weite Grenze war die Verfassung. Heute genügt ein falsches Wort, ein unbedachtes Posting oder Kritik an Missständen – und schon steht man auf der Abschussliste der neuen Tugendhüter. Willkommen im Zeitalter der moralisch lizenzierten Meinung.
Von der Debatte zur Denunziation
Der Brandanschlag auf den AfD-Abgeordneten Baumann, die Farbattacken auf einen Wiener Gastronomen, der schlicht alle Parteien bewirtet, Pflastersteine vor den Türen freiheitlicher Mandatare – das alles erinnert an eine Form der politischen Auseinandersetzung, die man längst für überwunden hielt. Heute geschieht Gewalt wieder im Namen der „richtigen“ Gesinnung. Man wirft nicht mehr Steine nach oben, sondern nach rechts. Und viel perfider, man vernichtet Kritiker am öffentlichen Pranger durch Extremismusvorwürfe und hält damit die immer unzufriedenere, aber persönlich – höflich formuliert – vorsichtige Masse still.
In der selbstzufriedenen Symbiose von Politik, Medien und Aktivismus gilt alles als „rechtsextrem“, was nicht eindeutig dem linken oder linksliberalen Milieu zugeordnet werden kann. So wird die einst pluralistische Demokratie zunehmend zu einem Meinungskorridor, bewacht von denjenigen, die sich selbst als Verteidiger der Vielfalt bezeichnen. Linksgrün als Verteidiger der Meinungsfreiheit zu sehen, ist heute so, wie den Hund auf die Wurst aufpassen zu lassen.
Die ungleichen Regeln des neuen Moralstaates
Der Fall des Publizisten Norbert Bolz zeigt, wie dünn das Eis geworden ist. Eine Hausdurchsuchung wegen eines Postings auf X – kein Aufruf zu Gewalt, keine staatsgefährdende Aktion. Ein Posting. Ähnlich ergeht es kritischen Medien oder Unternehmern, deren Bankkonten plötzlich gesperrt werden. Auch der Autor dieser Zeilen kennt dieses Erlebnis – wie das Medium, das Sie gerade lesen. Kritische Stimmen verlieren Plattformen, Konten, Sichtbarkeit. Gleichzeitig genießen Aktivisten nahezu Narrenfreiheit: Sie dürfen Behörden attackieren, antisemitische Demonstrationen dulden oder Gewalt relativieren – solange die Haltung stimmt.
Die einen bekommen Handschellen, die anderen Schulterklopfer. Willkommen im neuen Gleichheitsstaat, in dem alle gleich sind – nur manche etwas gleicher. Und dann war da noch der Bürger, bei dem wegen eines harmlosen Memes Hausdurchsuchung gehalten wurde. Humor ist offenbar zum Sicherheitsrisiko geworden. Wer hätte gedacht, dass ein GIF gefährlicher sein könnte als eine Brandfackel?
Die Panik der Machtlosen
Europas selbsternannte Eliten machen sich keine Sorgen um ihre Bürger, sondern wegen ihrer Bürger. Ob Italien, Frankreich, Deutschland, Österreich, fast überall verlieren die einst großen „Volksparteien“ ihre Völker. Das politische Zentrum schrumpft und verschmilzt, koaliert je nach Bedarf sogar mit Kommunisten, Hauptsache, die Macht bleibt dem System.
Anstatt sich zu fragen, warum ihnen die Menschen davonlaufen, erklären sie das Volk kurzerhand zum Problem. Nicht die Mitte ist nach rechts gerückt – sie wurde von den Einheitsparteien nach links verlassen. Diese Lücke der Normalität füllen die Rechtspopulisten, und die Lücke ist groß. Die „Brandmauer gegen rechts“ – das Lieblingssymbol der etablierten Politik – erinnert an die Berliner Mauer im moralischen Gewand. Auch damals hieß es, man müsse sich schützen. Und auch damals war klar, wer wirklich eingesperrt war: die eigenen Bürger.
Aber die Menschen sind bei sozialistischen Mauern nie in Richtung Sozialismus geflohen. Und auch heute will niemand über die Brandmauer hinein. Die Bewegung geht – wie damals – nur in eine Richtung: weg von den selbsternannten Wahrheitsverwaltern und ihrer Realitätsverweigerung. Der Satz Jörg Haiders klingt heute fast prophetisch: „Bevor die Politiker das Volk austauschen, sollte das Volk die Politiker austauschen.“ Und genau davor fürchten sich die Mächtigen in Brüssel, Wien oder Berlin: dass die Menschen diese Idee tatsächlich umsetzen – solange sie es noch dürfen.
Die Angst vor der Demokratie
Der Grundton der Zeit ist Angst – nicht vor Extremisten, sondern vor dem Wahlzettel. Man hört es aus jeder politischen Pore: „Populismus!“, „Fake News!“, „Hass und Hetze!“ Das sind keine Argumente mehr, sondern Abwehrzauber. Die Apparate spüren, dass ihre Deutungshoheit schwindet – und reagieren, wie alle Apparate reagieren, wenn sie Vertrauen verlieren: mit Kontrolle.
In Brüssel werden unter dem Vorwand der „Desinformationsbekämpfung“ Gesetze entworfen, die jede unbequeme Meinung digital ausblenden können. In Wien und Berlin entstehen „Meldestellen“ – Fortschritt laut Pressemitteilung, Rückschritt in Wahrheit. Die neue Demokratie ist aufmerksam – vor allem gegenüber ihren Kritikern. Früher sagte man: Meinungsfreiheit endet dort, wo die Würde des anderen beginnt. Heute endet sie dort, wo der Applaus aufhört. Wer sich nicht in die moralische Marschmusik der „Zivilgesellschaft“ einreiht, gilt als gefährlich. „Haltung zeigen“ heißt längst: „den Mund halten“.
Medien, Moral und Machtverlust
Das mediale Establishment marschiert brav im Takt. Wer die Regierung kritisiert, ist „rechts“. Wer Behörden misstraut, ist „Verschwörungstheoretiker“. Wer Reformen fordert, ist „Demokratieskeptiker“. Die Begriffe wechseln, das Prinzip bleibt: Ausgrenzung durch Etikettierung.
Die veröffentlichte Meinung ersetzt die öffentliche. Talkshows wirken wie Gruppentherapien für Gesinnungstreue, Journalisten agieren als moralische Erzieher. Man nennt es „Diskurs“, aber es ist Dressur. Und wenn jemand den Mut hat, anders zu denken, folgt die digitale Exekution – Cancel Culture als Ersatz für Argumente. Viele der heutigen Meinungskontrolleure stammen aus jener Generation, die einst gegen Autoritäten rebellierte. Sie haben die Macht übernommen, die sie einst bekämpften – und verteidigen sie nun mit jener Intoleranz, die sie früher anderen vorwarfen. Die Revolution hat ihre Kinder nicht gefressen, sie hat sie in die Chefetagen befördert.
Der Kipppunkt war Corona
Während der Coronajahre hat sich die Gesellschaft an ein neues Denken gewöhnt: Widerspruch ist gefährlich, Kritik unsolidarisch, Freiheit egoistisch. Diese Prägung wirkt bis heute. Was früher Ausnahme war, ist nun Routine – staatliche Eingriffe, moralische Gleichschaltung, Kontrolle im Namen des Guten. Die Pandemie war weniger ein medizinisches als ein mentales Experiment. Ergebnis: Gehorsam als Tugend.
Demokratie unter Betreuung
Die EU-Kommission, nationale Regierungen und öffentlich-rechtliche Sender betreiben mittlerweile eine Art „betreute Demokratie“. Man darf wählen, aber bitte richtig. Man darf sprechen, aber nicht alles. Man darf kritisch sein, solange es nichts verändert. Das ist kein Faschismus – das ist bequemer: eine weiche Diktatur des moralischen Konsenses. Keine Lager, kein Blut, keine Gewalt – nur Stille. Dissidenten werden nicht eingesperrt, sondern ausgeblendet. Das ist effizienter. Und es klingt sogar freundlich. Aber wie in der DDR gilt auch heute: Wer die Kontrolle verliert, baut Mauern. Und wer Mauern baut, hat den Glauben an sich selbst längst verloren.
Der Preis der Selbsttäuschung
Die selbsternannten Eliten Europas haben den Kontakt zur Realität verloren. Sie verlieren Wahlen, aber nicht den Tonfall. Sie verlieren Mehrheiten, aber nicht die Arroganz. Sie glauben, das Volk erziehen zu können – und merken nicht, dass das Volk längst aus der Schule ausgetreten ist. Am Ende bleibt eine bittere Pointe: Die Demokratie wird von ihren angeblichen Verteidigern erstickt. Wer Freiheit abbaut, um Freiheit zu schützen, wird im Totalitarismus aufwachen. Denn, wenn nicht mehr die Bürger den Staat bestimmen, sondern der Staat die Bürger – dann ist der Kreis geschlossen und Geschichte wiederholt sich. Lassen wir das nicht mehr zu.






